90 4.13 Der Umgang mit NS-Tätern und -Opfern in Österreich Opfermythos Nach den ersten Jahren der engagierten Entnazifizierung setzte sich in der Nachkriegszeit in Österreich die Auffassung durch, das Land wäre vom Deutschen Reich 1938 gewaltsam besetzt worden. Damit gab man die Verantwortung für alle NS-Verbrechen an Deutschland ab. Die breite Zustimmung der österreichischen Bevölkerung 1938 zum „Anschluss“ wurde dabei ignoriert. Diese Sichtweise wurde durch eine Passage aus der Moskauer Deklaration der Alliierten von 1943 untermauert: Österreich sei das erste freie Land gewesen, „das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer“ gefallen sei. Historikerin Heidemarie Uhl über den Umgang Österreichs mit seiner NS-Vergangenheit Die Jahre 1938 bis 1945 wurden als Fremdherrschaft dargestellt und – soweit es um den österreichischen Anteil ging – unter dem Aspekt von Widerstand und Verfolgung, vor allem aber als Kampf um die Befreiung Österreichs betrachtet. M1: Uhl: Das „erste Opfer“, 2001, S. 19. „Der Herr Karl“ Bis in die 1980er-Jahre wurde die Mitverantwortung an NS-Verbrechen in Österreich verschwiegen – sowohl von der Politik als auch im Großteil der Gesellschaft. Der 1961 im ORF gezeigte Monolog „Der Herr Karl“ von Carl Merz und Helmut Qualtinger konnte das Schweigen kurz aufbrechen. M2: Franz Hubmann: Helmut Qualtinger als Herr Karl. Kleines Theater im Konzerthaus. Fotografie, 1961 Im Einpersonenstück stellte der Schauspieler Qualtinger einen politischen Mitläufer und Opportunisten dar, der sich in der Zwischenkriegszeit unterschiedlichen politischen Lagern angeschlossen hatte, immer auf den eigenen Vorteil bedacht. Nach dem Anschluss war Herr Karl sofort zu den Nationalsozialisten übergelaufen und hatte skrupellos von diesen Verbindungen profitiert. Trotzdem stellt er sich als Opfer der Geschichte dar. Mit dem Stück wurde der in Österreich herrschende Opfermythos infrage gestellt. Es löste Proteste und Auseinandersetzungen aus. Historiker Wolfgang Maderthaner über das Stück Die Fernseherstausstrahlung vom 15. November 1961 löste einen hysterischen Proteststurm sondergleichen aus, wochenlang reagierte die Republik mit empörter Fassungslosigkeit auf diese – ihre – Geschichte. Qualtinger, so der Bildhauer Alfred Hrdlicka, habe den Leuten eben einen Spiegel vorgehalten: „Sie haben sich darin gesehen, aber sich nicht erkannt.“ M3: Online auf: https://oe99.staatsarchiv.at/20-jh/der-herr-karl/ (18.5.2024). Die „Waldheim-Affäre“ Ab 1986 wurde die Opferthese erstmalig in der breiten Gesellschaft diskutiert und von verschiedensten Gesellschaftsgruppen infrage gestellt. Damals trat der ehemalige UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim als Kandidat für das Präsidentenamt an. Waldheim wurde während des Wahlkampfs beschuldigt, seine Mitgliedschaft beim SA-Reiterkorps unterschlagen zu haben. Außerdem habe er verschwiegen, dass er 1942 zu einer Heeresgruppe der Deutschen Wehrmacht versetzt worden war, die an der Deportation der jüdischen Bevölkerung beteiligt gewesen war. Später stellte eine Historiker/innenkommission fest, dass Waldheim von den Kriegsverbrechen zumindest gewusst haben musste. Waldheim in der ORF-Pressestunde 9. März 1986 Ich habe im Krieg nichts anderes getan als hunderttausende Österreicher auch, nämlich meine Pflicht als Soldat erfüllt. M4: Rauscher: „Ich habe im Krieg nichts anderes getan als meine Pflicht erfüllt“, in: Standard, 27.2.2016. Online auf: www.standard.at (7.5.2024). Auswirkungen und Folgen der Waldheim- Affäre Die Auseinandersetzungen um Waldheim spalteten die Gesellschaft in zwei Lager: Zum Beispiel konnten sich viele ehemalige Wehrmachtssoldaten mit Waldheims Aussage, er habe nur seine Pflicht erfüllt, identifizieren. Andere betrachteten vor allem Waldheim-kritische Berichte in internationalen Medien als unangemessene Einmischung in innere Angelegenheiten. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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