erleben und gestalten 4 - Geschichte und politische Bildung, Schulbuch

14 Demokratie Zerfall der Demokratie Nach der Nationalratswahl 1919 bildeten die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) und die Christlichsoziale Partei (CS) eine große Koalition. Sie zerbrach im Oktober 1920 aufgrund unterschiedlicher ideologischer Interessen der beiden Parteien. Danach standen sich das bürgerliche und das sozialdemokratische Lager nur noch feindlich gegenüber. Die SDAP, die sich als Vertreterin der Arbeiterinnen und Arbeiter sah, lehnte die Politik der bürgerlichen Regierung ab. Umgekehrt versuchten die Christlichsozialen durch politische Bündnisse (z.B. mit der Großdeutschen Volkspartei) den Aufstieg des Sozialismus zu verhindern und wollten einen Ständestaat errichten. Radikalisierung in der Ersten Republik Die politische Auseinandersetzung und die Sprache wurden immer radikaler. Der politische Kampf verlagerte sich immer öfter auf die Straße. Dafür waren die von den Parteien gegründeten bewaffneten Wehrverbände mitverantwortlich. Der Republikanische Schutzbund war eine Parteiorganisation der SDAP, die Heimwehr und die Frontkämpfervereinigung standen dem bürgerlichen Lager nahe. Regelmäßig marschierten die bewaffneten Verbände gegeneinander auf, um ihre Stärke zu zeigen. Die Spaltung der österreichischen Bevölkerung in zwei politische Lager verschärfte sich immer mehr. 1926 setzte die Sozialdemokratie ihr Linzer Programm in Kraft, in dem eine radikale, marxistisch geprägte Ideologie vertreten wurde. Daraufhin verstärkten sich die ideologischen Gegensätze zwischen den beiden Parteien noch weiter. Politischer Kampf auf der Straße Im Jänner 1927 kam es zu einem folgenschweren Ereignis im burgenländischen Ort Schattendorf. Beim Zusammentreffen von Mitgliedern des Republikanischen Schutzbundes und der Frontkämpfervereinigung wurden zwei unbeteiligte Menschen erschossen. Im darauffolgenden Gerichtsverfahren wurden die Täter von einem Geschworenengericht am 14. Juli 1927 von der Anklage des „beabsichtigten Mordes“ freigesprochen. Tausende Menschen protestierten daraufhin und im Zuge dieser Protestaktionen wurde der Wiener Justizpalast in Brand gesetzt. Bundeskanzler Ignaz Seipel befahl der Wiener Polizei, die Unruhen unter allen Umständen zu unterdrücken. Während der Straßenkämpfe, bei denen die Polizei Schießbefehl erhielt, starben 89 Menschen. Über 1 000 Menschen wurden verletzt. Nach den Ereignissen von 1927 wurden die Gegensätze der Lager unüberwindbar. Das mangelnde Vertrauen der Parteien in die parlamentarische Demokratie, die fehlende Gesprächsbereitschaft und der Einsatz von Gewalt als Mittel der Politik ebneten den Weg für die Zerstörung der demokratischen Strukturen in Österreich. Aufmarsch der Heimwehr in Wiener Neustadt, Foto, 1928 Aufmarsch des Schutzbundes in Eisenstadt, Foto, 1932 ÷ Im 20. Jh. prägten „politische Lager“ lange Zeit die österreichische Gesellschaft und viele Bereiche des Alltags. So waren z.B. auch Jugendund Sportvereine (Union, ASKÖ, ÖTB) nach politischen Gruppierungen ausgerichtet. Heute haben die politischen Lager im Alltag an Bedeutung verloren. P Ständestaat: Vorstellung eines nach Berufsgruppen (Ständen) organisierten Staates an Stelle eines demokratisch gewählten Parlaments P Frontkämpfervereinigung Deutsch-Österreichs: Zusammenschluss ehemaliger Soldaten der k. u. k. Armee zu einem Wehrverband; stand der Heimwehr ideologisch nahe; 1935 aufgelöst P Geschworene: ausgesuchte Personen ohne juristische Ausbildung, die bei einem Rechtsverfahren über Schuld oder Unschuld der Angeklagten entscheiden ÷ Eine Gedenktafel im Wiener Justizpalast verweist auf die Ereignisse, die 1927 zur weiteren Radikalisierung der politischen Situation in Österreich beitrugen. Bundespräsident Heinz Fischer (2004– 2016) enthüllt die Gedenktafel im Justizpalast, Foto, 2007 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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