34 Faschismus Flucht und Vertreibung Novemberpogrom – Steigerung des NS-Terrors Ein vorläufiger grausamer Höhepunkt des NS-Terrors gegen die jüdische Bevölkerung wurde im November 1938 erreicht. Nachdem ein jüdischer Student einen Angestellten der deutschen Botschaft in Paris erschossen hatte, ordnete Reichspropagandaminister Goebbels für den 9. November ein Pogrom an. Organisierte SA-Truppen plünderten und zerstörten, auch unter Beteiligung der Bevölkerung an den Gewaltaktionen, tausende jüdische Geschäfte und Wohnhäuser und brannten in ganz NS-Deutschland rund 1 400 Synagogen und Bethäuser nieder. Jüdinnen und Juden wurden misshandelt, verletzt oder getötet. Die Polizei griff nicht ein. In den Tagen danach wurden in Deutschland und Österreich rund 35 000 jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Österreich Nach dem Novemberpogrom wurde die jüdische Bevölkerung durch zunehmende Entrechtung, gesellschaftliche Isolierung, Enteignungen, „Zwangsarisierungen“ zur Flucht gezwungen. Doch nur sehr wenige Länder waren dazu bereit, jüdische Flüchtlinge aus NS-Deutschland aufzunehmen. Es bestanden große Schwierigkeiten, lebensrettende Einreisevisa zu erhalten. Viele Familien wurden auf der Flucht auseinandergerissen. Rund zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung (130 000 Menschen) konnten rechtzeitig aus Österreich fliehen, bevor im Herbst 1941 eine Auswanderung vom NS-Regime verboten wurde und die Deportationen in die Vernichtungslager begannen. Kindertransporte nach Großbritannien Nachdem Berichte über Gewalt und Terror gegen die jüdische Bevölkerung während des Novemberpogroms im Ausland bekannt geworden waren, erlaubte die britische Regierung auf Initiative von jüdischen Organisationen die Einreise von jüdischen Kindern. Verfolgte Kinder bis 17 Jahre sollten Asyl erhalten, sie mussten allerdings alleine reisen, denn ihre Eltern durften sie nicht begleiten. Der erste Zug mit 196 Kindern verließ Berlin am 30. November 1938 nach London. Aus Wien fuhr der erste Kindertransport am 10. Dezember 1938 ab. Durch diese Transporte in eine fremde Welt fanden rund 2 800 österreichische Kinder Zuflucht in Großbritannien. Insgesamt wurden zwischen Dezember 1938 und September 1939 (Kriegsbeginn) etwa 10 000 Kinder aus dem Deutschen Reich, dem ehemaligen Österreich, Polen und der Tschechoslowakei gerettet. In Großbritannien wurden die Kinder bei Pflegefamilien oder in Kinderheimen untergebracht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mussten viele auf diesem Weg gerettete Kinder erkennen, dass sie ihre Eltern nie mehr wiedersehen würden. Sie waren in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten ermordet worden. Nur rund ein Zehntel dieser Kinder fand seine Eltern wieder. Jüdische Kinder aus Berlin und Hamburg treffen am Bahnhof Waterloo Station in London ein, Foto, 2.2.1939 P SA (Sturmabteilung): Ordnertruppe der NSDAP, paramilitärische Kampforganisation Die Grazer Synagoge heute; erbaut 1998–2000 auf Resten der im November 1938 zerstörten Synagoge, Foto, 2008 ÷ Obwohl sich viele ehemalige Kindertransportkinder gerne an ihre Pflegefamilien erinnern, gibt es auch Berichte darüber, dass manche Kinder von ihren Pflegeltern als billige Dienstboten bzw. als Kindermädchen ausgenutzt wurden. Kindertransport-Skulptur am Bahnhof Liverpool Street Station in London, wo viele der Kinder ankamen, Foto, 2006 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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