86 Erinnerungskulturen Opfermythos und öffentliche Erinnerungskultur Wandel und Neuorientierung Nach 1945 war die Ansicht weit verbreitet, dass Österreich das „erste Opfer“ des nationalsozialistischen Deutschlands gewesen wäre (Opferthese). Dies beruhte auf der Moskauer Deklaration (1943). Die österreichische Mittäterschaft an den Verbrechen des Nationalsozialismus wurde über viele Jahrzehnte verdrängt und verleugnet. Zwar wurden kurz nach dem Kriegsende einige Gedenkstätten für die Opfer der NS-Diktatur bzw. Denkmäler für den Widerstand errichtet, doch bald konzentrierte sich die Erinnerungskultur nur noch auf die gefallenen Soldaten in Form von Kriegerdenkmälern. Die eigentlichen Opfer der NS-Herrschaft gerieten in Vergessenheit. Ab Mitte der 1980er-Jahre veränderte sich diese Haltung großteils in Politik und Gesellschaft durch die sog. „Waldheim-Debatte“. Infolge der Wahl von Kurt Waldheim zum österreichischen Bundespräsidenten (1986) stellte nach Vorwürfen eine Historikerkommission fest, dass Waldheim seine Vergangenheit während der Zeit des Nationalsozialismus lückenhaft und teilweise gefälscht dargestellt hatte. Dies führte zu einer breiten, öffentlich geführten Diskussion über Österreichs NS-Vergangenheit. 1991 sprach sich Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) in einer Parlamentsrede offiziell für ein Bekenntnis zur Mitverantwortung am Holocaust aus. Bei einem Israel-Besuch 1993 bat er im Namen der Republik die Opfer österreichischer Täterinnen und Täter um Verzeihung. Die Sichtweise auf die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs hatte sich verändert, es kam zu einer Dekonstruktion (Auflösung) des Opfermythos. Infolge dieser Veränderung wurden auf politischer Ebene in den nachfolgenden Jahren auch Entschädigungsleistungen für NS-Opfer möglich. 2019 beschloss der Nationalrat, dass Verfolgte des Nationalsozialismus und ihre direkten Nachkommen die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten können. Gerechte unter den Völkern | Righteous Among the Nations Die internationale Gedenkstätte Yad Vashem wurde 1953 in Jerusalem (Israel) gegründet. Ihre Aufgabe ist es ein Andenken an die sechs Millionen im Holocaust ermordeten Jüdinnen und Juden zu bewahren. Es bewahrt die Erinnerung an die Vergangenheit und gibt deren Bedeutung an zukünftige Generationen weiter. In Yad Vashem wird auch an Menschen erinnert, die ihr Leben riskierten, um Jüdinnen und Juden vor der Ermordung zu retten. Der Titel „Gerechte unter den Völkern“ ist die höchste Auszeichnung, die der Staat Israel an nichtjüdische Menschen vergibt. Als es am Berg der Erinnerung keinen Platz für weitere Bäume gab – man hatte bereits 2 000 zu Ehren der Gerechten gepflanzt –, schuf man 1996 den „Garten der Gerechten“. Dort werden die Namen der Gerechten auf den Mauern eingraviert. Beinahe 27 000 Frauen und Männer aus über 100 Ländern und allen Gesellschaftsschichten, Altersgruppen und Religionszugehörigkeiten wurden bis heute mit dem Ehrentitel ausgezeichnet. Unter den Gerechten sind derzeit auch 110 Österreicherinnen und Österreicher. Demonstration gegen Bundespräsident Kurt Waldheim mit dem Nachbau eines Trojanischen Pferdes, Wien, Foto, 1988 ÷ Die Opferthese (auch Opfermythos) ist eine Geschichtsinterpretation, die sich auf die „Moskauer Deklaration“ (1943) stützt, in der Österreich als „erstes Opfer der typischen Angriffspolitik Hitlers“ bezeichnet wurde. In der Deklaration wurde Österreich allerdings auch für seine Beteiligung am Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite mitverantwortlich gemacht. P Yad Vashem: hebräisch, bedeutet Denkmal (Yad) und Name (Shem) Halle der Namen, Yad Vashem, Israel, Foto, 2018 Gedenktafel für Maria und Ludwig Knapp, Weitra (NÖ), Foto, 2018 Digitales Zusatzmaterial h6wu7a Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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