Killinger Literaturkunde, Schülerband [Prüfauflage]

Literaturkunde KILLINGER Prüfauflage Die Verkaufsauflage erscheint unter der ISBN 978-209-13044-0

Liebe Schülerin, lieber Schüler, Sie bekommen dieses Buch von der Republik Österreich für Ihre Ausbildung. Bücher helfen nicht nur beim Lernen, sondern sind auch Freunde fürs Leben. Kopierverbot Wir weisen darauf hin, dass das Kopieren zum Schulgebrauch aus diesem Buch verboten ist - § 42 Absatz 6 Urheberrechtsgesetz: „Die Befugnis zur Vervielfältigung zum eigenen Schulgebrauch gilt nicht für Werke, die ihrer Beschaffenheit und Bezeichnung nach zum Schul- und Unterrichtsgebrauch bestimmt sind.“ www.oebv.at Unter diesen Online-Links finden Sie noch weitere Materialien auf www.oebv.at Diese Aktivitäten eignen sich für das Portfolio. Umschlagbild: Ingrid Rasmussen / Design Pics / Getty Images 1. Auflage (Druck: 0001) © Österreichischer Bundesverlag Schulbuch GmbH & Co. KG, Wien 2024 Alle Rechte vorbehalten. Jede Art der Vervielfältigung, auch auszugsweise, verboten. Redaktion: Andrea Eder, Daniela Unfried, Wien Layout, Umschlaggestaltung, Herstellung: Andrea Maria Fellner, Wien Druck: Brüder Glöckler GmbH, Wöllersdorf W-6529-137 Prüfauflage zu ISBN 978-3-209-13044-0 (Die Literaturkunde SB) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

Robert Killinger Bearbeitet und aktualisiert von: Georg Hellmayr, Stephan Waba Literaturkunde Unter diesen Online-Links finden Sie noch weitere Materialien auf www.oebv.at Ó Diese Aktivitäten eigenen sich für das Protfolio. www.oebv.at Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

INHALTSVERZEICHNIS FRÜHMITTELALTER 4 8. – 10. JAHRHUNDERT Epochenüberblick 9 HOCHMITTELALTER 10 1170 – 1230 Die mittelalterliche Gesellschaftsordnung 10 Der Ritter und seine Welt 11 Das Heldenepos am Beispiel des Nibelungenliedes 13 Das höfische Epos am Beispiel des Parzival 21 Lyrische Formen 24 Epochenüberblick 31 DIE BALLADE (LÄNGSSCHNITT) 32 Die Volksballade 32 Die Kunstballade 35 Der Song 39 RENAISSANCE, HUMANISMUS, REFORMATION 42 1450 – 1600 Abkehr vom Mittelalter – Aufbruch zu Neuem 42 Reformationsliteratur 43 Volkstümliche Literatur 46 Epochenüberblick 51 DAS GRIECHISCHE DRAMA UND SEIN EINFLUSS AUF DIE DEUTSCHE LITERATUR (LÄNGSSCHNITT) 52 Überblick über die klassische Zeit 52 Merkmale der griechischen Tragödie 53 Darstellungsmittel des griechischen Dramas 61 DAS BAROCK 64 17. JAHRHUNDERT Die politischen, sozialen und kulturellen Faktoren 64 Die Sprache und die Lehre von der Dichtkunst 65 Barockroman 66 Barocklyrik 73 Das barocke Theater und die Wiener Vorstadtbühnen 76 Epochenüberblick 85 DIE AUFKLÄRUNG 86 1700 – 1770 Befreiung aus der Unmündigkeit 86 Die Literatur der Aufklärung 88 Lessing als Aufklärer und Reformer 94 Redekunst bei Shakespeare 100 DER STURM UND DRANG 108 1770 – 1785 Das neue Lebensgefühl 108 Die Einstellung zu den literarischen Formen 109 Vorläufer und Anreger des Sturm und Drang 110 Erlebnislyrik 111 Hymnische Gedichte 114 Der Briefroman 116 Politische Lyrik: In Tyrannos 120 Drama im Sturm und Drang 124 Epochenüberblick 133 DIE GESCHICHTE VOM DOKTOR FAUST, DEM TEUFELSBÜNDLER (LÄNGSSCHNITT) 134 Der Teufelspakt im Volksbuch 135 Der Fauststoff in der Aufklärung 136 Goethes Faust 138 Nikolaus Lenau Faust – Ein Gedicht 144 Thomas Mann Doktor Faustus 146 Elfriede Jelinek FaustIn and Out 149 DIE DEUTSCHE KLASSIK 150 1786 – 1805 Die Idee des Humanen 150 Das Drama der deutschen Klassik 153 Der Bildungs- und Entwicklungsroman 157 Die Lyrik der Klassik 159 ZWISCHEN KLASSIK UND ROMANTIK 164 Friedrich Hölderlin 164 Heinrich von Kleist 167 DIE ROMANTIK 172 1795 – 1835 Ein Programm für eine wirre Zeit 172 Die Frühromantik 173 Die Hochromantik 176 Romantische Lyrik 181 Die Spätromantik 183 Epochenüberblick 187 DAS BIEDERMEIER UND DER VORMÄRZ 188 1815 – 1848 Das Biedermeier 188 Drama des Biedermeier 191 Epik des Biedermeier 201 Lyrik des Biedermeier 204 Der Vormärz 206 Die Jungdeutschen 206 Revolutionäre 207 Epochenüberblick 215 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

INHALTSVERZEICHNIS DER REALISMUS 216 1850 – 1885 Auf der Suche nach der Wirklichkeit 216 Der poetische Realismus 217 Der kritische Realismus 223 DER NATURALISMUS 226 1882 – 1910 Umwälzende neue Theorien 226 Der naturalistische Roman 227 Das naturalistische Drama 232 Epochenüberblick 237 GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS 238 1890 – 1925 Die Wiener Moderne 238 Der Symbolismus 250 Der Impressionismus 253 Bürgerliche Epik 257 Der Expressionismus 261 Der Dadaismus 274 DIE ZEIT ZWISCHEN DEN KRIEGEN – NEUE SACHLICHKEIT 276 1920 – 1945 Das epische Theater 277 Das Volksstück 284 Großstadtroman 287 Romane in Österreich 289 Lyrik 295 Literatur zur Zeit des Nationalsozialismus 297 Epochenüberblick 301 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 302 Literarhistorischer Überblick 302 Stilformen der deutschen Lyrik 306 Das naturmagische Gedicht 306 Das surreale Gedicht 309 Das zeit- und gesellschaftskritische Gedicht 313 Experimentelle Texte (Konkrete Poesie) 315 Die Lyrik der Postmoderne 320 Modernes deutsches Drama 327 Das bürgerliche Problemstück 327 Das absurde Theater 330 Das experimentelle Sprachspieltheater 333 Wiederbelebung des Volksstücks 336 Darstellung der Frau im Drama 339 Das Theater der Postmoderne 344 Das Hörspiel 353 Moderne epische Formen 356 Kurzprosa 356 Prosa-Literatur in der DDR 365 Prosa-Literatur in Österreich 368 Neorealistische Romane 371 Postmoderne Erzähler/innen 380 Epochenüberblick 405 LITERATUR IM SPANNUNGSFELD VON ZWEI- UND MEHRSPRACHIGKEIT 407 Literatur der slowenischen Volksgruppe 407 Literatur der kroatischen Volksgruppe 412 Literatur der ungarischen Volksgruppe 416 Literatur der Roma und Sinti 418 UNTERHALTUNGS- UND TRIVIALLITERATUR (LÄNGSSCHNITT) 422 VERMITTLUNG UND VERMARKTUNG VON LITERATUR (LÄNGSSCHNITT) 431 Von den Autorinnen und Autoren zu den Leserinnen und Lesern 431 Buchmarkt 435 ALLGEMEINE MERKMALE VON TEXTEN 438 Inhaltliche Merkmale 438 Stoff 438 Motiv 438 Formale Merkmale 439 Offene und geschlossene Form des Dramas 440 Erzählperspektive 440 Erzählverhalten 440 Der Zeitverlauf 441 Sprachliche Kriterien 442 Die im Werk dargestellte Welt 445 Formen gebundener Sprache 449 Thematische Zuordnung 454 Personenregister 456 Textregister 460 Quellenverzeichnis 462 Bildregister 466 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

4 FRÜHMITTELALTER 8. BIS 10. JAHRHUNDERT Zur Zeit der Völkerwanderung (etwa 375 – 568) ziehen die germanischen Stämme der Franken, Alemannen, Baiern und Sachsen vom Osten in ihre endgültigen Siedlungsräume ein. Sie kommen mit der spätrömischen Kultur und mit dem Christentum in Berührung. Diese Begegnung bedeutet einen gewaltigen Einschnitt sowohl in der Entwicklung der germanischen Völker als auch der spätrömischen Kultur und eine Veränderung aller Lebensformen. Die Germanen der Völkerwanderungszeit hatten bereits ihre Dichtung: Heldenlieder (z. B. über Armin), Kriegslieder und Ritualverse, die mündlich weitergegeben wurden; davon ist nur wenig erhalten geblieben. Die Niederschrift alter Dichtung (also die Literatur im eigentlichen Sinn) beginnt erst im 8. Jahrhundert in den Klöstern. 744 gründete Bonifatius (673 – 754), der Apostel der Deutschen, die Benediktinerabtei Fulda. Hier wurde den jungen Mönchen die lateinische Sprache anhand der Bibel und theologischer Schriften vermittelt, hier lernten die Mönche lesen und schreiben und stellten handgeschriebene Bücher her. Die Klöster wurden zu Zentren des geistigen Lebens, die Mönche zu Vermittlern und Trägern der spätrömisch-frühchristlichen Kultur. Durch die Schreibtätigkeit einiger Mönche sind uns Reste heidnisch-germanischer Dichtung erhalten, so z. B. die beiden Merseburger Zaubersprüche, die im 10. Jahrhundert in ein Messbuch in Fulda eingetragen wurden. Zaubersprüche finden wir bei allen Kulturvölkern. Sie enthalten einen Wunsch, der durch die Anrufung höherer Mächte mit einer magischen Beschwörungsformel erfüllt werden soll. In dem einen der beiden Merseburger Zaubersprüche wird zunächst eine Szene aus der Götterwelt beschworen: Vol ende Wodan vuorun zi holza Vol und Wodan ritten in den Wald do wart demo Balderes volon sin vuoZ birenkit. Da ward dem Fohlen Balders sein Fuß verrenkt. Daraufhin beschwören zuerst zwei weibliche Gottheiten, dann Wodan selbst die Verletzung: sose benrenki, sose bluotrenki Wie die Beinrenke1, so die Blutrenke sose lidirenki: so die Gliedrenke: ben zi bena, bluot zi bluoda, Bein zu Bein, Blut zu Blut, lid zi geliden, sose gelimida sin! Glied zu Glied, als ob sie geleimt seien! Klöster als Kulturträger Älteste deutsche Texte 2 1 Beinrenke: Verletzung des Beines 2 4 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

FRÜHMITTELALTER | 8. – 10. JAHRHUNDERT 5 Es ist uns eine ganze Reihe von Zauber- und Segenssprüchen aus dem bäuerlichen Alltagsleben erhalten: ein Hundesegen, ein Wurmsegen, Sprüche zur Gesundung und zum Schutz von Menschen und Vieh. Die alten „Zauber“sprüche wurden durch christlichen Einfluss zu „Segens“sprüchen, wie es sie ja noch heute gibt (vgl. den Kinderreim „Heile, heile Segen, sieben Tage Regen ...“ und die Haus- und Autoweihen). Erstes Blatt des Hildebrandsliedes Das Hildebrandslied Aus der Welt des Adels stammt das einzige uns erhaltene Heldenlied, das so genannte Hildebrandslied. Es wurde von zwei Mönchen des Klosters Fulda um 810 auf die erste und die letzte Seite eines lateinischen religiösen Buches geschrieben. Warum die beiden Mönche dies taten, weiß man heute nicht. Manche meinen, dies sei eine reine Schreibübung gewesen, andere behaupten, die Mönche wollten den Sachsen, für die sie das Buch abschrieben, einen idealen Helden vorstellen. Das Hildebrandslied, das nur ein Glied einer ganzen Kette von Heldenliedern war, entstand wahrscheinlich Anfang des 8. Jahrhunderts am Hof des Langobardenkönigs im heutigen Oberitalien. Der historische Hintergrund ist die Zeit der Völkerwanderung: Hildebrand hat Frau und Sohn verlassen und ist als Waffenmeister mit Dietrich von Bern (dem historischen Ostgotenkönig Theoderich, 451/456 – 526) gezogen, schließlich vor König Odoaker (um 433 – 493) in die Verbannung an den Hunnenhof geflohen. Nun kehrt er nach 30 Jahren heim. Doch an der Grenze stellt sich ihm ein junger Krieger mit seinem Gefolge entgegen. Hildebrand fragt ihn, „wer sin fater wari“ (wer sein Vater wäre). So erfährt er, dass es Hadubrand, sein einziger Sohn, ist, der ihm gerüstet gegenübersteht. Hadubrand weist die goldenen Armringe, die ihm der Vater schenken möchte, mit harten Worten zurück und schimpft Hildebrand einen listigen alten Hunnen; denn ihm haben Seefahrer berichtet, dass sein Vater im Kampf getötet worden sei; „tot is hiltibrant“, schließt er seine Rede. Nach germanischer Vorstellung darf der Vater die Schmähung nicht einfach hinnehmen; er muss die Herausforderung zum Kampf annehmen, wenn er nicht als Feigling gelten will. Denn die Ehre des Mannes gilt mehr als sein Leben. So kommt es zum Zweikampf der beiden zwischen den Heeren. Hildebrand klagt über sein Schicksal: welaga nu, waltant got (quad hiltibrant), wewurt skihit. „O waltender Gott“, fuhr Hildebrand fort, „das Schicksal will seinen Lauf. ih wallota sumaro enti wintro sehstic ur lante, Ich bin sechzig Sommer und Winter außer Landes gegangen, dar man mih eo scerita in folc sceotantero, da hat man mich immer in die Schar der Bogenschützen gestellt, so man mir at burc enigeru banun ni gifasta: nachdem mich vor keiner Burg der Tod ereilt hat: nu scal mih suasat chind suertu hauwan, Soll es nun geschehn, dass mich mein eigener Sohn mit dem Schwert erschlägt, breton mih sinu billiu, eddo ih imo ti banin werdan. mich mit seiner Waffe zu Boden fällt – oder dass ich ihm den Tod bringe. 2 4 6 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

6 Mitten in der Schilderung des Kampfes bricht nach 67 Versen die Aufzeichnung des Gedichts ab. Es ist jedoch gewiss, dass der Vater den Sohn tödlich verletzt. Vielleicht hat das Gedicht mit einer Klage, vielleicht sogar mit der Selbsttötung des Vaters geendet. Man vermutet, dass es sich beim Hildebrandslied um eines der jüngsten Heldenlieder handelt, weil es formal auf einer sehr hohen Stufe steht, die eine lange Entwicklung voraussetzt. Die Situation wird knapp berichtet, dazwischen stehen direkte Reden, die den dramatischen Verlauf wiedergeben. Die Langzeilen weisen den germanischen Stabreim auf, das ist der Gleichklang von Konsonanten am Anfang sinntragender, betonter Wörter: Ik gihorta ðat seggen, Ich hörte (glaubwürdig) berichten, ðat sih urhettun ænon muotin, dass zwei Krieger, Hildebrand und Hadubrand, (allein) Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem. zwischen ihren beiden Heeren, aufeinanderstießen. sunufatarungo iro saro rihtun. Zwei Leute von gleichem Blut, Vater und Sohn, rückten da ihre Rüstung zurecht, garutun se iro gudhamun, gurtun sih iro swert ana, sie strafften ihre Panzerhemden und gürteten ihre Schwerter, helidos ubar hringa, do si to dero hiltiu ritun. über die Eisenringe, die Männer, als sie zu diesem Kampf ritten. Das Hildebrandslied wurde – wie alle Heldenlieder – zunächst mündlich weitergegeben, ehe es in einer althochdeutsch-altsächsischen Mischsprache niedergeschrieben wurde. Das Motiv des Zweikampfes zwischen dem nach langer Abwesenheit heimkehrenden Vater und dem misstrauischen Sohn findet sich in der Weltliteratur mehrmals, doch das Besondere des Hildebrandsliedes liegt darin, dass der Vater weiß, wen er tötet. 1. Diskutieren Sie die Motive für diese Auseinandersetzung: • Finden Sie im Klassenverband eine Definition des Begriffes Ehre. • Vergleichen Sie die Rolle der Ehre in Konflikten von heute und damals. Gehen Sie darauf ein, wie in der Gegenwart oft Konflikte ausgetragen werden und welchen Platz der Begriff in der Alltagssprache/Jugendsprache („Ehrenfrau/Ehrenmann“) einnimmt. Im so genannten Jüngeren Hildebrandslied, das zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert häufig gedruckt wurde, zeigt sich der christliche Einfluss in der ein Jahrtausend umfassenden Überlieferung. Er schloss im auf sein güldin helm und kust in an sein munt: Er öffnete ihm den goldenen Helm und küsste ihn auf den Mund: „Nun muess es got gelobet sein! Wir sint noch beid gesunt.“ „Nun soll Gott gelobt sein! Wir sind noch beide unversehrt.“ 2. Vergleichen Sie den Schluss des Jüngeren Hildebrandsliedes mit der älteren Vorlage und erläutern Sie genau, worin sich der Einfluss des Christentums zeigt. Stabreim 2 4 6 2 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

FRÜHMITTELALTER | 8. – 10. JAHRHUNDERT 7 Der in die Tragödie führende Gedanke von der ritterlichen Ehre hat sich zur rührenden Familiengeschichte gewandelt. Neben diesen Resten germanischer Dichtung gibt es eine Fülle althochdeutscher Literatur christlichen Inhalts. Im 9. Jahrhundert entstanden zwei große Epen, die das Leben und die Lehre Jesu zum Thema haben. Sie gelten als der Anfang einer schriftlichen deutschen Literatur. Das eine der beiden Epen, der Heliand (Heiland), entstand um 840 und besteht aus 6.000 Langversen mit dem altgermanischen Stabreim. Der uns unbekannte Dichter muss ein vornehmer Sachse gewesen sein, der sowohl die weltliche altsächsische und angelsächsische Dichtung kannte als auch über eine gründliche geistliche Bildung verfügte. Auftraggeber war König Ludwig (der Sohn Karls des Großen, 778 – 840). Zweck des Gedichts war es, die Bibel den Laien, vor allem den Adeligen, in ihrer Sprache (dem Altsächsischen) vorlesen zu können. Der Dichter hat die vier Evangelien in eine einzige Erzählung zusammengefasst. Man nennt dies Evangelienharmonie. Die Leistung des Autors besteht vor allem in der sprachlichen Übersetzung des Inhalts. Der Stil und die Erlebnisart der biblischen Berichte sind der altsächsischen Welt, die erst kurz zuvor von Karl dem Großen (747/748 – 814) auf blutige Weise christianisiert worden war, angepasst: Christus erscheint als König aus Davids Geschlecht, die Apostel sind seine Gefolgsleute (wie in der germanischen Gesellschaftsordnung). Petrus wird als „schneller Schwertdegen“ dargestellt, Pilatus als Herzog. Neben Gottes Willen spielt die germanische Vorstellung vom Schicksal eine große Rolle. Trotz dieser Zugeständnisse an die Denkweise der Empfänger handelt es sich um ein Werk, das den christlichen Geist, die frohe Botschaft von der Liebe Gottes und der Erlösung des Menschen, vermitteln will. Das zweite große Epos, das nur wenige Jahrzehnte jünger ist, stammt von dem Mönch Otfried von Weißenburg (um 790 – 875), der in einem Kloster im südlichen Elsass lebte. Mit seiner Evangelienharmonie wollte auch er das Buch der Bücher dem Laien vermitteln, der kein Latein verstand. Doch hier wird viel stärker als im Heliand die theologische Auslegung des Geschehens betont. Außerdem unterscheidet sich Otfrieds Dichtung vom Heliand durch die Übernahme spätantik-christlicher Kunstmittel: Otfried hält sich an den lateinischen Satzbau, an die antike Rhetorik, vor allem aber verwendet er als Erster den Endreim der lateinischen Dichtung. Man spürt, welche Schwierigkeiten Otfried zu überwinden hatte, theologische Erkenntnisse auf Fränkisch auszudrücken und auch noch in Verse zu bringen. Beide Werke, sowohl der Heliand als auch Otfrieds Epos, sind insofern grundlegend für die deutsche Literatur und die weitere Entwicklung des Geisteslebens, als sie den deutschen Stämmen das christliche Heilsgeschehen und die antike Sprachkultur vermitteln. Evangelienharmonien Reliefbild Otfrieds von Weißenburg in Wissembourg Endreim Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

8 Eines der rätselhaftesten alten Sprachdenkmäler aus dem 9. Jahrhundert ist das Muspilli, eine Art Predigt von den letzten Dingen1 in Versform. Schon das Wort „muspilli“ ist sprachlich nicht mehr zu klären, es bedeutet im Textzusammenhang Weltuntergang, letztes Gericht, eine heidnische Vorstellung von den Schrecknissen der letzten Tage. Anfang und Schluss des Gedichts fehlen; erhalten sind 103 Verszeilen, die in ein lateinisches Buch geschrieben wurden. Vermutlich wurde eine wesentlich ältere Vorlage verwendet, die ziemlich entstellt wurde. Die Sprachform ist jedoch bairisch. Im ersten Teil des Gedichts kämpfen Engel und Teufel um die Seele eines eben verstorbenen Menschen, ein Motiv, das sich später häufig findet, z. B. in Goethes Faust. Der zweite Teil berichtet vom Weltuntergang: Elias kämpft gegen den Teufel. Das Blut des verwundeten Engels entzündet auf der Erde einen Weltenbrand. Schließlich erscheint Gott und hält Gericht. so daz Eliases pluot in erda kitriufit, Wenn des Elias Blut auf die Erde tropft, so inprinnant die perga, poum ni kistentit so entbrennen die Berge, kein Baum bleibt stehen enihc in erdu, aha artruknent, keiner auf der Erde, die Wasser vertrocknen, muor varswilhit sih, svilizot lougiu der himil, das Moor saugt sich auf, es schmilzt im Feuer der Himmel, mano vallit, prinnit mittilagart. der Mond fällt, es brennt die Erde. sten ni kistentit. verit denne stuatago in lant. Kein Stein bleibt stehen. Es fährt der Tag des Gerichts in das Land. verit mit diu vuiru viriho wison. Er fährt mit dem Feuer, die Menschen zu strafen. dar ni mac denne mak andremo helfan vora demo muspille. Da kann kein Vetter dem anderen helfen vor dem Weltbrand (Muspilli). Die Kanonisse2 Hrotsvit (Roswitha) von Gandersheim (um 935 – nach 973) gilt als erste bekannte deutsche Schriftstellerin des Frühmittelalters, obwohl sie ihre Texte in Latein, der Bildungssprache des Mittelalters, schrieb. Ihre Werke umfassen geistliche Schriften, historische Dichtungen und Dramen. Besonders bekannt ist die in lateinischen Versen (Hexametern) verfasste Familiengeschichte Kaiser Otto des Großen Gesta Ottonis (Die Taten Ottos). In ihrer Version der Theophilus-Legende kommt zum ersten Mal im deutschen Sprachraum ein Teufelspakt vor, der später in den diversen Faust-Dichtungen wieder aufgegriffen wird. 3. Vergleichen Sie die heutige Zeit mit der Zeit der Völkerwanderung: • Beschreiben Sie, ob es auch heute noch Wanderbewegungen gibt und unter welchen Umständen sie stattfinden. • Diskutieren Sie, welche sprachlichen, kulturellen und sozialen Auswirkungen damit einhergehen. 1 von den letzen Dingen: Ereignisse am Ende des Lebens, wie z. B. der Tod 2 Kanonisse: Frau, die zwar in einem Nonnenkloster lebt, aber keine Gelübde abgelegt hat 2 4 6 8 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

EPOCHENÜBERBLICK 9 FRÜHMITTELALTER | 8. BIS 10. JAHRHUNDERT GESCHICHTE GESELLSCHAFT/WIRTSCHAFT ARCHITEKTUR UND KUNST 375 Einbruch der Hunnen in Osteuropa löst Wanderung germanischer Stämme nach Westen und Südwesten aus. 391 Christentum wird Staatsreligion des Römischen Reiches durch ein Edikt des oströmischen Kaisers Theodosius I. 476 Absetzung des weströmischen Kaisers Romulus. 493 Theoderich der Große gründet in Italien das Ostgotenreich. 768 – 814 Karl der Große, größte Ausdehnung des Frankenreiches. Gründung von Kloster- und Domschulen. Karl versammelt Gelehrte und Schriftsteller aus aller Welt an seinem Hof in Aachen. Sammlung germanischer Heldenlieder („Karolingische Renaissance“). 780 Unterwerfung der Sachsen. 800 Krönung Karls zum Kaiser durch den Papst in Rom. 814 – 840 Ludwig der Fromme, von geistlichen Beratern abhängig. Vernichtung vieler heidnischer Sprachdenkmäler. 911 – 918 Konrad I. von Franken, erster deutscher König. Westgermanenstämme stoßen auf spätrömische Kultur, werden sesshaft. Sie lernen den Steinhausbau und die Bewirtschaftung des Bodens (Weinbau). 496 Taufe des Frankenkönigs Chlodwig in Reims. 722 Christianisierung der Hessen und Thüringer durch Bonifatius („Apostel der Deutschen“). 744 Gründung des Klosters Fulda. Große Bedeutung der Klöster als Zentren der Christianisierung und der literarischen Bildung. Um 500 Palastbauten Theoderichs in Italien (Ravenna). Kirchenbauten zeigen byzantinischen Einfluss (Mosaike). Grabmal Theoderichs in Ravenna (um 526). 8. Jahrhundert: romanische Kirchen- und Klosterbauten im Frankenreich (z. B. Autun, Vézelay). Pfalzkapelle1 Karls des Großen in Aachen (805). Kirche St. Michael in Fulda geweiht (822). 8. – 9. Jahrhundert: Entwicklung der karolingischen Buchmalerei. LITERATUR Germanisch-heidnische Sprachdenkmäler Zaubersprüche (Merseburger Zaubersprüche). Hildebrandslied (Stabreim). Erst später von Mönchen in Klöstern aufgezeichnet. Christliche Dichtung Heliand (altsächsisch, um 840). Otfried von Weißenburg: Evangelienharmonie (fränkisch, um 870). Muspilli (Gedicht vom Untergang der Welt). Gebete. Hrotsvit (Roswitha) von Gandersheim: Legenden, Dramen, historische Texte. Der allergrößte Teil der Literatur sind religiöse Werke in lateinischer Sprache. 1 Pfalz: Residenz eine reisenden Königs Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

10 HOCHMITTELALTER ETWA 1170 BIS 1230 DIE MITTELALTERLICHE GESELLSCHAFTSORDNUNG Diese Zeit ist durch eine Dreiständegesellschaft gekennzeichnet: Ritterschaft (Wehrstand), Bauern (Nährstand) und Geistlichkeit (Lehrstand) waren deutlich voneinander abgegrenzt und doch aufeinander bezogen. Das Feudalsystem (feudum = Lehen1) gliederte die Gesellschaft stufenförmig. Der König stand an der Spitze der Gesellschaftsordnung und vergab an seine Untergebenen Lehen oder Ämter. Inhaber großer Lehen gaben Teile davon weiter, natürlich nur gegen vereinbarte Dienstleistungen. Es galt der Grundsatz: Kein Lehen ohne Dienst, kein Dienst ohne Lehen. Zwischen den Endpunkten der Lehensordnung war jeder somit Lehensherr und auch Lehensmann und stand in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Abhängigkeit zum jeweils anderen. Der Lehensherr war zu „milte“ (Freigebigkeit) verpflichtet, der Lehensmann zu „triuwe“ (Treue und Gehorsam). Der Untergebene genoss militärischen Schutz, zu seinen Pflichten zählte jedoch auch der Kriegsdienst für den Lehensherrn. Der Ritter bildete als gerüsteter Reiter den Kern und die Stärke des Heeres. Seine wirtschaftliche Lebensgrundlage war Land, das persönliches Eigentum oder Lehen Das Lehenswesen 1 Lehen: Grundbesitz, der von einem Herrscher, dem Lehensherrn, einem Untergebenen, dem Lehensnehmer, zur Verfügung gestellt wird. Dafür ist der Lehensnehmer zum Dienst für den Lehensherrn verpflichtet. $ # ! "!$ # & ! $" " # " " # % ! ! !" ! !" ! " " $ ! ! "!$ # & ! ! $" " # ! % ! " " % ! " ! ! ! " ! ! " " ! "!$ # & ! $" " # % ! " " % ! ! " ! ! " " !$ $ # " $ Gesellschaftsstruktur Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

DAS HOCHMITTELALTER | 1170 – 1230 11 sein konnte. Die adeligen Ritter galten grundsätzlich als gleich, doch die sozialen Unterschiede waren sehr groß. Auf der untersten Stufe des Lehenswesens stand der Ministeriale, ein niedriger Dienst-Adeliger, der Reiterdienst versah, aber keine weiteren Mittel für den Lehensdienst aufbringen konnte. Viele Dichter stammten aus Ministerialenfamilien. Der Bauernstand bildete die wirtschaftliche Grundlage der Gesellschaft und war durch große soziale Unterschiede gekennzeichnet. Unter ihnen gab es Freie (in Tirol und in der Schweiz); Zinsleute, die zwar persönlich frei waren, aber Abgaben zu entrichten hatten; Hörige, die Frondienste und Abgaben leisten mussten; Leibeigene, die als Eigentum ihres Herrn galten. Die bäuerliche Bevölkerung, die Masse des Volkes, konnte sich der Abhängigkeit nur durch die Flucht in die Städte entziehen, die im 12. und 13. Jahrhundert stark wuchsen. Wer in die Stadt zog, musste durch Fleiß und Geschick in einem Handwerk zu seinem Lebensunterhalt kommen. Eine neue Schicht entstand: das Bürgertum. Auf dem Markt wurden handwerkliche Erzeugnisse gegen Nahrungsmittel getauscht. Neben dem Handwerk entwickelte sich der Handel – eine arbeitsteilige Gesellschaft entstand. Auch die Geistlichkeit war in das Lehenssystem eingebunden. Äbte und Bischöfe waren Lehensmänner des Königs, sie waren aber auch dem Papst zu Gehorsam verpflichtet. Die Auseinandersetzung zwischen der weltlichen Autorität, dem König, und der geistlichen Autorität, dem Papst, führte zu großen Spannungen, die sich besonders an der Ernennung von Bischöfen entzündeten (Investiturstreit). Der geistliche Stand war gegliedert in Mönche (in Klöstern) und Weltgeistliche. Eine besondere Gruppe bildeten abgesprungene Theologen, die als „Vaganten“ („Fahrende“) zu Trägern einer eigenen Literaturform wurden. Sie verfassten Trink-, Liebes- und Tanzlieder, Satiren und Schwänke in realistisch-volkstümlichem Ton. Ihre Vorbilder waren Ovid, Horaz und Vergil (Vagantenlyrik). Bedeutungsentwicklung frouwe – wîp: Im Zuge der Sprachentwicklung kommt es immer wieder zu Bedeutungsveränderungen. Dieses Phänomen lässt sich gut am folgenden Beispiel beobachten: frouwe (mhd): (gehobene) Frau, Dame wîp (mhd): Frau (neutral, nicht abwertend) Frau (nhd): Frau (neutral) Weib (nhd): Frau (abwertend) Seit dem Mittelalter haben diese Begriffe eine deutliche Bedeutungsverschiebung erfahren. DER RITTER UND SEINE WELT Den höfischen Ritter kennzeichnete eine Reihe von Tugenden (= sittlich wertvolle Eigenschaften) und Wertvorstellungen. An oberster Stelle standen „êre“ (ritterliche Ehre), „zuht“ (Selbstdisziplin) und „mâZe“ (Maßhalten der Leidenschaften). Die Zugehörigkeit zur höfischen Gesellschaft führte zu einem Hochgefühl, zum „hohen muot“. Der Begriff hat viele Bedeutungen und ist am ehesten mit Selbstbewusstsein zu umschreiben. Mit „vröude“ meinte man die Lust am Leben, der das Bewusstsein, dass der Mensch sündig ist, und die Furcht vor ewigen Strafen entgegenstanden. Die niedrige Lebenserwartung, die eingeschleppten Krankheiten und Seuchen sorgten für ein ständiges „memento mori“1. 1 Memento mori: Denke daran, dass du sterben musst (Bewusstsein des Todes, der Vergänglichkeit) Staat und Kirche Wertesystem Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

12 Der junge Ritter wurde zuerst als Page von Frauen an einem fremden Hof erzogen, dann als Knappe militärisch ausgebildet. Die Frau wurde als das feinere, vollkommenere Geschöpf angesehen und war deshalb berechtigt, den Ritter zu erziehen. Im Hochmittelalter gehörte auch die Unterweisung in höfischem Betragen und in Musik zur Ausbildung. Die Schwertleite (der Ritterschlag) machte den Knappen zum Ritter. In den Kreuzzügen entwickelte der Ritterstand ein übernationales Standesbewusstsein; er fühlte sich als Streitmacht Gottes und deswegen über alle anderen Menschen erhaben. Die Blütezeit des Ritterstandes fällt in die Regierungszeit Kaiser Friedrich Barbarossas (1152 – 1190). Auf dem Zusammengehörigkeitsgefühl des Ritterstandes beruhte seine gesellschaftliche, aber auch seine kulturelle Bedeutung. Der Ritter löste im 12. Jahrhundert das Mönchstum als Träger der Kultur ab. Das Schwergewicht verlagerte sich von den Klöstern in die Burgen. Könige und Fürsten übten ihre Herrschaft nicht mehr nur auf Reisen durch ihre Lande aus, sondern errichteten ständige Residenzen, die eine große Bedeutung als Kulturstätten gewannen. Die verfeinerte höfische Lebensart und Kultur entwickelte sich zuerst in Frankreich und kam von dort in den deutschen Raum. Die kulturellen Zentren lagen im süddeutschen Raum: am staufischen Hof in Schwaben, an den Höfen in Bayern, Ostfranken und Österreich. Höfische Literatur Neben die religiöse Literatur der Mönche und die Volksdichtung (Lieder, Schwänke1) trat seit 1170 die höfische Literatur. Die Dichter der höfischen Gesellschaft verwendeten eine Sprachform, die frei von derben Ausdrücken und Dialektwörtern war. Dadurch konnte sie in weiten Teilen des deutschen Sprachraums verstanden werden und wurde zur ersten überregionalen Dichtersprache. Sie verfiel jedoch nach etwa 1250 mit dem Niedergang des Ritterstandes und seiner Dichtung. Hauptkennzeichen der höfischen Dichtung: 1. S ie war Standesdichtung, d. h., sie wurde Adeligen vorgetragen und handelte vom Leben der Adeligen. 2. S ie war idealistisch, d. h., sie zeigte den Ritter als Idealtyp auf seinem Weg, ein vollkommener Mensch zu werden. 3. S ie war streng formal, d. h., Sprache, Vers, Reim, Aufbau waren ebenso festgelegt wie die Gattungsformen. Die meisten Texte waren nicht individuell geprägt. Die vorherrschenden Formen der mittelhochdeutschen höfischen Dichtung waren Epos, Verserzählung und Minnelied. Die weitaus größte Zahl der handgeschriebenen Bücher war jedoch in lateinischer Sprache abgefasst und behandelte religiöse Inhalte. Der höfische Dichter trug seine Werke der Adelsgesellschaft aus dem Gedächtnis in einer Art Sprechgesang vor und begleitete sich selbst auf einer Fiedel oder einer Laute. Manchmal entstammte er dem Rittertum und betrieb das Dichten nebenher; meist musste er aber als „fahrender Sänger“ von seiner Kunst leben, weil er nicht wohlhabend war. Dann zog er von einer Burg zur anderen und war von der vielfach großzügigen Unterstützung der Herren abhängig. Oft bedeutete seine Ankunft willkommene Abwechslung im Leben auf der Burg, besonders im Winter, und gab Anlass zu Festen. Der höfische Dichter regte mit seinem Vortrag die Phantasie an und konnte von den Ereignissen in der Welt berichten. Da der fahrende Sänger oder Spielmann in keinem Dienstverhältnis stand, war er zwar äußerlich unabhängig, aber auch schutzlos und ohne Sicherheit. Selbst Walther von der Vogelweide klagte über die materielle Not in seiner Wanderzeit. Fürstenhöfe als Zentren der Kultur 1 Schwank: volksnahe Erzählung oder ein entsprechendes Theaterstück, meist humorvoll Rolle des höfischen Dichters Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

DAS HOCHMITTELALTER | 1170 – 1230 13 DAS HELDENEPOS AM BEISPIEL DES NIBELUNGENLIEDES Mit dem Wort „Epos“ bezeichnet man eine Großform erzählender Dichtung in Versen, die ursprünglich mündlich vorgetragen und überliefert wurde. Das Epos gehört zu den ältesten Formen der Dichtung vieler Kulturvölker; es entwickelte sich in einer kriegerisch-aristokratischen Gesellschaft und thematisiert die Lebensgewohnheiten und Ideale des Adels. Im Mittelpunkt der meisten älteren Epen steht der typisierte Held, der Vorbild für die Zuhörenden sein soll (Achill in Homers Ilias und Odysseus in der Odyssee). Die deutsche ritterlich-höfische Dichtung um 1200 hat zwei Formen des Epos hervorgebracht: das Heldenepos und das höfische Epos. Das Heldenepos bearbeitet germanische Heldenlieder aus der Völkerwanderungszeit, die – bis auf das Hildebrandslied – verloren gegangen sind. Die Heldenepen haben einen historischen Kern, der durch die jahrhundertelange mündliche Weitergabe und die verschiedenen Bearbeitungen der Stoffe stark zurückgedrängt wurde. Dies bezeugt vor allem das bekannteste mittelhochdeutsche Heldenepos, das Nibelungenlied. Sein Verfasser, ein unbekannter Dichter aus dem österreichischen Donautal, verweist in der einleitenden Strophe auf seine Quellen: Uns ist in alten mæren wunders vil geseit In alten Geschichten wird uns vieles Wunderbare berichtet von helden lobebæren, von grôZer arebeit, von ruhmreichen Helden, von hartem Streit, von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen, von glücklichen Tagen und Festen, von Schmerz und Klage, von küener recken strîten, muget ir nu wunder hoeren sagen. vom Kampf tapferer Recken (Ritter), davon könnt auch Ihr jetzt Wunderbares berichten hören. Im Nibelungenepos sind zwei ursprünglich voneinander unabhängige Stoffe zu einer Einheit verwoben: die Sage von Siegfried und Brünhilde, in der mythische Vorstellungen überwiegen, und der Untergang der Burgunden unter ihrem König Gunthari (Gunther) im Kampf gegen die Hunnen im 5. Jahrhundert. Das Nibelungenlied ist in 39 „Âventiuren“ (= Erzählabschnitte) und eine abschließende Klage gegliedert. Dieser letzte Abschnitt bietet eine Deutung des Gesamttextes. Wie Siegfried Kriemhild zum ersten Mal sah Die folgende Textprobe stammt aus der 5. Âventiure „Wie Sîfrit Kriemhilt êrste gesach“. Siegfried ist schon ein volles Jahr bei den Burgunden in Worms, hat aber Kriemhild noch nie gesehen. Da lässt König Gunther aus Freude über den Sieg, den die Burgunden dank Siegfrieds Hilfe über die Sachsen und Dänen erringen konnten, ein Hoffest („hôchgezît“) veranstalten. 32 Fürsten kommen mit ihrem Gefolge zum Fest nach Worms geritten. An einem pfinxtmorgen sach man füre gân, Am Morgen des Pfingstfestes konnte man viele tapfere Helden, gekleidet wünneclîche, vil manegen küenen man, schön gekleidet zum Fest kommen sehen, fünf tûsent oder mêre, dâ zer hôhgezît. es waren wohl fünftausend oder sogar noch mehr. sich huop diu kurzewîle an manegem ende wider strît. [...] Sie begannen untereinander zu wetteifern, wer sich am besten unterhielt. [...] Die Form des Epos Heldenepos 2 Siegfried-Sage Burgunden-Sage 271 Das Hoffest Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

14 Dô sprach zuo dem künege der degen Ortwîn: Da sagte der Held Ortwin zum König: „welt ir mit vollen êren zer hôhgezîte sîn, „Wenn Ihr auf dem Fest den vollen Glanz Eurer Herrschaft zeigen wollt, sô sult ir lâZen schouwen diu wünneclîchen kint, dann dürft Ihr den Gästen den Anblick der schönen Mädchen, die mit sô grôZen êren hie zen Burgonden sint. den Stolz des Burgundenlandes, nicht vorenthalten. WaZ wære mannes wünne, des vreute sich sîn lîp, Was könnte einen Mann glücklich machen, was ihn erfreuen, eZ entæten schœne mägede und hêrlîchiu wîp? wenn nicht die Schönheit der Mädchen und der Glanz der Damen? lâZet iuwer swester für iuwer geste gân.“ Lasst auch Eure Schwester vor den Gästen erscheinen.“ der rât was ze liebe vil manegem helde getân. Dieser Rat entsprach genau den Wünschen zahlreicher Helden. „Des wil ich gerne volgen“, sprach der künec dô. „Ich will es gerne veranlassen“, sagte da der König. alle dieZ erfunden, die wârens harte vrô. Und die es hörten, freuten sich sehr. er enbôt eZ frouwen Uoten und ir tohter wol getân, Er ließ es der Herrin Ute und ihrer schönen Tochter ausrichten, daZ si mit ir mageden hin ze hove solde gân. [...] dass sie in Begleitung ihrer Jungfrauen bei Hofe erscheinen möchten. [...] Nu gie diu minneclîche alsô der morgenrôt Wie das Morgenrot aus den trüben Wolken hervortrat, so schritt tuot ûZ den trüeben wolken. dâ schiet von maneger nôt das liebliche Mädchen nun einher, und alsbald lösten sich in Siegfried, der si dâ truoc in herzen und lange het getân: der ihr Bild heimlich im Herzen trug und nun schon lange getragen hatte, alle Liebesqualen er sach die minneclîchen nu vil hêrlîchen stân. [...] In allem Glanz sah er das liebliche Mädchen vor sich stehen. [...] Sam der liehte mâne vor den sternen stât, So wie der helle Mond, der so rein aus den Wolken herausleuchtet, des schîn sô lûterlîche ab den wolken gât, die Sterne überstrahlt, dem stuont si nu gelîche vor maneger frouwen guot. so stand sie nun vor den vielen anderen trefflichen1 Frauen. des wart dâ wol gehœhet den zieren helden der muot. [...] Den stattlichen Helden schlug bei ihrem Anblick das Herz höher. [...] Er dâhte. in sînem muote „wie kunde daZ ergân Er dachte bei sich: „Wie könnte ich nur deine Liebe gewinnen? daZ ich dich minnen solde? daZ ist ein tumber wân. Ich glaube, das ist eine törichte2 Erwartung. sol aber ich dich vremeden, sô wære. ich sanfter tôt.“ Wenn ich dich jedoch meiden sollte, dann wäre es besser, ich wäre tot.“ er wart von den gedanken vil dicke bleich unde rôt. [...] Bei diesen Überlegungen wechselte immer wieder seine Gesichtsfarbe. [...] 1 trefflich: vorzüglich 2 töricht: dumm, einfältig 273 274 275 281 283 285 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

DAS HOCHMITTELALTER | 1170 – 1230 15 Dô si den hôhgemuoten vor ir stênde sach, Als sie den hochherzigen Mann vor sich stehen sah, dô erzunde sich sîn varwe diu schœne maget sprach: da übergoss glühende Röte sein Antlitz. Die schöne Jungfrau sagte: „sît willekomen, her Sîvrit, ein edel ritter guot.“ „Seid willkommen, Herr Siegfried, edler, trefflicher Ritter.“ dô wart im von dem gruoZe vil wol gehœhet der muot. Da ließ der Gruß sein Herz höher schlagen. Er neic ir flîZeclîche: bi der hende si in vie. Mit Hingabe verneigte er sich vor ihr: Sie aber ergriff seine Hand. wie rehte minneclîche er bî der frouwen gie! Wie lieblich er doch an der Seite Kriemhilds einherging! mit lieben ougen blicken ein ander sâhen an Mit freundlichen Blicken sahen sie einander an, der herre. und ouch diu frouwe: daZ wart vil tougenlîch getân. [...] der Ritter und die Dame: immer nur heimlich und verstohlen. [...] Bî der sumerzîte und gein des meien tagen Weder der Sommer noch der Frühling dorfte. er in sîme herzen nimmer mêr getragen hätten ihn so von Herzen glücklich machen können, wie es da geschah sô vil der hôhen vreude denne. er dâ gewan, als das geliebte Mädchen, das er heimzuführen hoffte, dô im diu gie enhende die er ze trûte wolde hân. mit ihm Hand in Hand ging. 1. Vergleichen Sie Rollenzuschreibungen im obigen Text mit der Gegenwart: • Geben Sie wieder, was laut Text den Mann an einer Frau erfreut, und wie ihr äußeres Erscheinungsbild beschrieben wird. • Stellen Sie das Aussehen und Verhalten bei der Annäherung des prototypischen (beispielhaften) Ritters dar. • Erläutern Sie, in welcher Hinsicht sich diese Rollenbilder bis heute erhalten bzw. verändert haben. 2. Untersuchen Sie den Bedeutungswandel des Wortes „muot“ über die Jahrhunderte: • Beschreiben Sie zunächst, in welcher Bedeutung das Wort „muot“ hier Ihrer Meinung nach im Text verwendet wird. • Diskutieren Sie die Bedeutung des Wortes „muot“ anhand der folgenden neuhochdeutschen Wendungen und Zusammensetzungen: guten Mutes sein, mir ist nicht wohl zumute, Hochmut, Schwermut, Wehmut, Sanftmut. • Überprüfen Sie Ihre Erkenntnisse mit Hilfe einer Recherche im Internet. In Kriemhilds Traum von dem starken und schönen Falken, den ihr zwei Adler mit den Krallen zerreißen, klingt das Leitmotiv ihres Schicksals und des ganzen Nibelungenepos zum ersten Mal an: dass Liebe und Freude mit Leid bezahlt werden müssen. Immer wieder tauchen die Begriffe „liep“ (Liebe, Freude) und „leit“ (Leid, Schmerz) gemeinsam auf, als gehörten sie unbedingt zusammen: Sîvride dem herren wart beide liep unde leit. Dem Herrn Siegfried wurde abwechselnd warm und kalt ums Herz.1 dô truoc er ime herzen liep âne leit Und es lachte ihm das Herz in ungetrübter Freude2 292 Kriemhild begrüßt Siegfried 293 295 Liebe und Leid 1 Wörtliche Übersetzung: Dem Herrn Siegfried wurde sowohl Liebe als auch Leid zuteil. 2 Wörtliche Übersetzung: Da trug er im Herzen Liebe ohne Leid. 284, 4 291, 2 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

16 Als Siegfried betrauert und begraben wurde In der 17. Âventiure „Wie Sîfrit beklaget unt begraben wart“ bricht das Leid über Kriemhild herein, und ihr ganzes weiteres Leben bis zu ihrem gewaltsamen Tod durch Hildebrands Hand muss sie ihre Liebe zu Siegfried mit „leide lônen“ (mit Leid vergelten). Siegfried ist nach einer Jagd im Odenwald von Hagen hinterrücks mit dem Speer getötet worden. Bei Nacht wird sein Leichnam über den Rhein gefahren und nach Worms gebracht. Von grôZer übermüete muget ir hœren sagen, Hört nun erzählen und von eislîcher râche. dô hieZ Hagene tragen von wildem Frevel1 und grausamer Rache. Da ließ Hagen Sîfrit alsô tôten von Nibelunge lant den toten Siegfried von Nibelungenland für eine kemenâten dâ man Kriemhilde vant. [...] vor die Kemenate2 bringen, in der Kriemhild schlief. [...] Dô si mit ir vrouwen zem münster wolde gân, Als sie nun mit ihren Damen zum Münster3 aufbrechen wollte, dô sprach der kamerære: „jâ sult ir stille stân! da sagte der Kämmerer: „Wartet doch noch einen Augenblick! eZ lît vor disem gademe ein ritter tôt erslagen.“ Vor dem Gemach4 liegt ein toter, erschlagener Ritter.“ dô begonde Kriemhilt vil harte unmæZlîche klagen. Da brach Kriemhild in maßloses Klagen aus. Ê daZ si rehte. erfunde daZ iZ wære ir man, Bevor sie noch festgestellt hatte, dass es auch wirklich ihr Mann war, an die Hagenen vrâge denken si began, dachte sie an Hagens Frage, wie er in solde vristen: dô wart ir êrste leit. wie er denn Siegfried schützen könne: Da erst wurde sie so recht von Schmerz ergriffen. von ir was allen vreuden mit sînem tôde widerseit. Denn mit Siegfrieds Tod entsagte (freiwillig verzichten) sie allem irdischen Glück. Dô seic si zuo der erden, daZ si niht ensprach: Da sank sie ohnmächtig zur Erde, sodass sie nicht mehr sprechen konnte: die schœnen vreudelôsen ligen man dô sach. Man sah die schöne, unglückliche Frau am Boden liegen. Kriemhilde jâmer wart unmâZen grôZ: Kriemhilds Schmerz war grenzenlos: do erschrê si nâch unkrefte daZ al diu kemenâte erdôZ. Da schrie sie nach ihrer Ohnmacht so laut auf, dass die ganze Kemenate davon widerhallte. Dô sprach daZ gesinde: „waZ ob eZ ist ein gast?“ Da sagte die Dienerschaft: „Vielleicht ist es ein Fremder?“ daZ bluot ir ûZ dem munde von herzen jâmer brast. Doch ihr schoss vor tiefem Schmerz das Blut aus dem Mund. dô sprach si: „eZ ist Sîfrit, der mîn vil lieber man: Da sagte sie: „Es ist Siegfried, mein geliebter Mann: eZ hât gerâten Prünhilt, daZ eZ hât Hagene getân.“ [...] Brünhild hat es geraten, Hagen hat es getan.“ [...] 1 Frevel: Übeltat, Schandtat 2 Kemenate: Wohnraum der Frauen auf einer Burg 3 Münster: Dom, Kirche 4 Gemach: Zimmer, Wohnraum 1003 Kriemhild findet den erschlagenen Siegfried 1007 1008 1009 1010 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

DAS HOCHMITTELALTER | 1170 – 1230 17 Diu naht was zergangen: man sagte. eZ wolde tagen. Die Nacht war nun vergangen, und es hieß, der Morgen nahe heran. dô hieZ die edel vrouwe zuo dem münster tragen Da ließ die edle Herrin ihren geliebten Gemahl, Sîfriden den herren, ir vil lieben man. den Herrn Siegfried, zum Münster tragen. swaZ er dâ vriunde hête, die sach man weinende gân. Alle, die seine Freunde waren, sah man weinend dem Sarg folgen. Dô si. in zem münster brâhten, vil der gloken klanc. Als sie ihn nun zum Münster trugen, da läuteten viele Glocken. dô hôrte man allenthalben vil maniges pfaffen sanc. Da hörte man von allen Seiten den Gesang unzähliger Geistlicher. dô kom der künic Gunther mit den sînen man Da schlossen sich Gunther mit seinen Gefolgsleuten und ouch der grimme Hagene zuo dem wuofe gegân. und auch der finstere Hagen den Wehklagenden an. Er sprach: „vil liebiu swester, owê der leide dîn, Gunther sagte: „Meine liebe Schwester, ach, wie musst du leiden, daZ wir niht kunden âne des grôZen schaden sîn. wäre uns doch dieser Verlust erspart geblieben. wir müeZen klagen immer den Sîfrides lîp.“ Allezeit wird es uns ein Bedürfnis sein, um Siegfried zu klagen.“ „daZ tuot ir âne schulde“, sprach daZ jâmerhafte wîp. [...] „Dazu habt ihr gar keinen Grund“, sagte da die trauernde Frau. [...] Si buten vaste. ir lougen. Kriemhilt begonde jehen: Sie leugneten es mit Entschiedenheit. Doch Kriemhild sagte: „swelher sî unschuldec, der lâZe daZ gesehen; „Wer unschuldig ist, der soll das auch öffentlich zeigen; der sol zuo der bâre vor den liuten gên. und vor den Augen aller Leute zu der Totenbahre treten. dâ bî mac man die wârheit harte schiere verstên.“ Dann wird man sehr schnell die volle Wahrheit erkennen.“ DaZ ist ein michel wunder: vil dicke. eZ noch geschiht, Es grenzt ans Wunderbare, und dennoch geschieht es noch heute, swâ man den mortmeilen bî dem tôten siht, wenn ein mordbefleckter Mensch an den Leichnam seines Opfers tritt, sô bluotent im die wunden: als ouch dâ geschach. da bluten die Wunden von neuem, so wie es auch da geschah. dâ von man die schulde dâ ze Hagene gesach. Daran wurde offenbar, dass die Schuld bei Hagen lag. 3. Verfassen Sie einen inneren Monolog aus der Sicht der Kriemhild, als sie den toten Siegfried im Vorraum erblickt. In Hagens Mord an Siegfried, in der zynischen Grausamkeit, den Ermordeten nachts heimlich vor Kriemhilds Kemenate legen zu lassen, wird zum ersten Mal eine Triebkraft wirksam, die fortan das Denken und Handeln der Hauptfiguren bestimmt und schließlich zum Untergang der Burgunden führt: das Verlangen nach „eislîcher râche“, nach furchtbarer, maßloser Vergeltung. 1038 Die Aufbahrung des Toten in der Kirche 1040 1041 1043 1044 Julius Schnorr von Carolsfeld, Hagen tötet Siegfried an der Quelle, Fresco im Saal des Verrats in den Nibelungensälen der Residenz München. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

18 4. Untersuchen Sie folgende Aspekte: • Vergleichen Sie, in welchen Verhaltensweisen Kriemhild den christlichen Frauen der höfischen Zeit gleicht und in welchen germanische Vorstellungen von Schuld und Rache durchbrechen. • Beschreiben Sie, wie heute Konflikte im privaten Bereich bzw. zwischen Völkern und Staaten gelöst werden. Hagen rächt nach dem germanischen Gebot der Gefolgschaftstreue die Schmach, die seiner Herrin Brünhild angetan worden ist; Kriemhild rächt mit der gleichen grausamen Unerbittlichkeit die Ermordung ihres Gatten. Schuld wird nicht vergeben, wie es die christliche Ethik fordert, sondern mit neuer Schuld gesühnt. Der Nibelungenschatz ist Symbol der Macht; er gewährleistet die Überlegenheit über andere Herrscher. Er ist aber auch Symbol allen Unglücks und aller Not: Der Inhaber des Schatzes erleidet ein gewaltsames Ende, zuerst Siegfried, dann die Wormser Könige und schließlich Kriemhild. Zur Form des Nibelungenliedes Seine Abkunft von alten Heldenliedern zeigt das Nibelungenepos auch in der formalen Gestaltung: der strophischen Gliederung. Die Nibelungenstrophe wurde Vorbild für andere mittelalterliche Heldenepen und ist in der Zeit der Romantik neu belebt worden. Das metrische Grundschema der Nibelungenstrophe sieht so aus: x x´ x x´ x x´ x` // x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ x` // x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ x` // x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ x x´ x` // x x´ x x´ x x´ x x´ Anvers Abvers 5. Analysieren Sie die Strophenform des Nibelungenliedes: • Beschreiben Sie den Aufbau einer Strophe und das Reimschema. • Untersuchen Sie die Bauweise der einzelnen Verse. • Stellen Sie fest, wie viele Hebungen alle Anverse enthalten und wie viele die Abverse 1 bis 3. Der Abvers der letzten Langzeile gewinnt durch eine vierte Hebung (= betonte Silbe) größere Schwere, sodass der Abschluss der Strophe deutlich markiert ist. Die einzelnen Strophen weichen vom metrischen Grundschema an einigen Stellen ab. So kann z. B. der Auftakt (= unbetonte Silbe vor der ersten Hebung) im Anvers und im Abvers fehlen. Das Nibelungenlied wurde wahrscheinlich musikalisch vorgetragen. Der Sänger begleitete sich selbst auf einem Saiteninstrument. Man nimmt an, dass die harte Zeilen- und Strophenmelodie die entsprechende Stimmung, eine Mischung aus Hochgefühl und Traurigkeit, erzeugte. Exkurs: Zur Schreibweise und Aussprache des Mittelhochdeutschen Die Aussprache und die Schreibung des Mittelhochdeutschen unterschieden sich deutlich vom Neuhochdeutschen. Mit Hilfe von Vergleichen mit einzelnen Dialekten und anderen Sprachen (z. B. lateinischen Transkriptionen) konnte die mittelhochdeutsche Aussprache rekonstruiert werden. Uns ist in alten mæren wunders vil geseit von helden lobebæren, von grôZer arebeit, von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen, von küener recken strîten, muget ir nu wunder hoeren sagen. 2 4 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

DAS HOCHMITTELALTER | 1170 – 1230 19 Vokale Länge und Kürze der Vokale unserer heutigen Sprache stimmen nicht immer mit den mittelhochdeutschen Verhältnissen überein. Bei der vereinheitlichten Schreibweise der Textausgaben wird auf die im Mittelhochdeutschen lang gesprochenen Vokale ein Zirkumflex (^) gesetzt: mhd. â dâhte nhd. dachte ê mêr(e) mehr î herzenlîche herzlich zît Zeit (î>ei) ô hôhgezîte Hochzeit û ûZ aus (û>au) iu (diu, iuch) ist als langes ü zu sprechen. Kurze Vokale sind nicht mit einem Zirkumflex gekennzeichnet: mhd. a sa˘gen nhd. sa¯gen ä mägede Mägde e de˘gen De¯gen i si, ir sie, ihr(e) o wo˘l wo¯hl u nu˘ nu¯n ü künege König Die kurzen Vokale in offener Silbe (sa˘–gen, de˘–gen) wurden erst im Neuhochdeutschen zu langen Vokalen. Dies ist eine der wesentlichsten Veränderungen in der Lautentwicklung vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen. 6. Suchen Sie in den Strophen des Nibelungenliedes Wörter, in denen im Mittelhochdeutschen ein kurzer Vokal, aber im Neuhochdeutschen ein langer Vokal gesprochen wird. Im Mittelhochdeutschen wurden die Diphthonge /ei/, /ie/, /ou/, /öi/, /uo/, /üe/ deutlich zweitonig gesprochen (wie oft heute noch in der bairisch-österreichischen Mundart): mhd. ei neic mhd. ie liep, liehte mâne, Kriemhilt, die mhd. ou schouwen mhd. öi vröide mhd. uo guot, muot mhd. üe brüeder, küenen Für Umlaute verwendete man besondere Zeichen (Ligaturen): Ligatur æ (mæren) ist langes ä (wie in Bären). Ligatur œ (hœren) ist langes ö (wie in hören). Dehnung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=