Killinger Literaturkunde, Schülerband

STURM UND DRANG | 1770 – 1785 113 Die Entstehung eines poetischen Werkes ist unter anderem von biographischen und historischen Bedingungen abhängig, also von den Erlebnissen des Autors und seiner Situation, aber auch von den geistigen und künstlerischen Strömungen der Zeit, von den politischen, wirtschaftlichen und religiösen Verhältnissen. Für die Entstehung des Werther waren mehrere biographische Fakten ausschlaggebend: 1772 ging Goethe als 23-jähriger Jurist ans Reichskammergericht in Wetzlar. Dort lernte er den Sekretär Kestner kennen. Er führte Goethe im Haus des Amtmannes Buff ein, mit dessen Tochter Charlotte er verlobt war und in die sich Goethe verliebte. Als ihm klar wurde, dass das Verhältnis von seiner Seite „leidenschaftlicher als billig1 geworden“ war und ein Konflikt aller Beteiligten unabwendbar schien, riss er sich von Lotte los und verließ heimlich die Stadt. Kurz darauf erfuhr er von Kestner vom Selbstmord seines Wetzlarer Bekannten Karl Wilhelm Jerusalem, der sich aus unüberwindlicher Neigung zu einer verheirateten Frau erschossen hatte. Goethe war zutiefst betroffen. Er fühlte sich erst nach der Niederschrift des Romans „wie nach einer Generalbeichte wieder froh und frei und zu einem neuen Leben berechtigt“. Noch im Erscheinungsjahr des Romans (1774) erfasste ein wahres Werther-Fieber die bürgerliche Jugend: „Manche Leser glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln“ und „einen solchen Roman nachspielen“ (Goethe). Unglücklich Liebende fühlten sich als Werther und kleideten sich wie dieser, ja es gab sogar Selbstmorde, die so ausgeführt wurden, wie es der Roman beschreibt. Der Werther-Stil wurde vielfach in Liebesromanen kopiert und manche hatten noch größeren Erfolg als Goethes Werk. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Aufsehen erregenden Werk förderte nicht nur Bewunderung, sondern auch Zweifel und Ablehnung zutage. Lessing schreibt in einem Brief an Johann Joachim Eschenburg im Oktober 1774: Haben Sie tausend Dank für das Vergnügen, welches Sie mir durch Mitteilung des Göthischen Romans gemacht haben. Ich schicke ihn noch einen Tag früher zurück, damit auch andere dieses Vergnügen je eher je lieber genießen können. Wenn aber ein so warmes Produkt nicht mehr Unheil als Gutes stiften soll: meinen Sie nicht, dass es noch eine kleine kalte Schlussrede haben müsste? Ein paar Winke hinterher, wie Werther zu einem so abenteuerlichen Charakter gekommen; wie ein andrer Jüngling, dem die Natur eine ähnliche Anlage gegeben, sich davor zu bewahren habe. Denn ein solcher dürfte die poetische Schönheit leicht für die moralische nehmen und glauben, dass der gut gewesen sein müsse, der unsre Teilnehmung so stark beschäftigt. Und das war er doch wahrlich nicht. Christian Friedrich Daniel Schubart in: Deutsche Chronik, 72. Stück (5. Dezember 1774): Da sitz’ ich mit zerflossnem Herzen, mit klopfender Brust und mit Augen, aus welchen wollüstiger Schmerz tröpfelt, und sag Dir, Leser, dass ich eben die ,Leiden des jungen Werthers’ von meinem lieben Goethe – gelesen? – nein, verschlungen habe. Kritisieren soll ich? Könnt’ ich’s, so hätt’ ich kein Herz. Göttin Critica steht ja selbst vor diesem Meisterstück des allerfeinsten Menschengefühls aufgetaut da. Mir wars, als ich Werthers Geschichte las, wie der Rachel im 11ten Gesang des Messias, wie sie im himmlischen Gefühl zerrann, und unter dem Gelispel des wehenden Bachs erwachte. Zur Produktionsgeschichte 1 billig: angemessen Zur Rezeptionsgeschichte Zeitgenössische Kritik 5 10 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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