114 Johann Melchior Goeze in: Freiwillige Beiträge zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit (4. April 1775, auch als Sonderdruck. Hamburg 1775): Einem jeden Christen, der für das Wort des Heilandes „Ich sage euch, wer ein Weib ansiehet, ihrer zu begehren, der hat schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen“ (Matth. 5,28) noch einige Ehrerbietung hat, der die Worte des heiligen Johannes „Wir wissen, dass ein Totschläger nicht hat das ewige Leben“ (1. Joh. 3,15) als einen Lehrsatz ansiehet, [...] muss notwendig das Herz bluten, wenn er „Die Leiden des jungen Werthers“ lieset [...] Man bedenke um Gottes willen, wie viele unsrer Jünglinge mit Werthern in gleiche Umstände geraten können und solches insbesonderheit in der gegenwärtigen Epoche, da es als höchste Weisheit angesehen wird, junge Seelen nicht sowohl durch Gründe der Religion in eine recht christliche Fassung zu setzen als vielmehr dieselben mit lauter phantastischen Bildern anzufüllen und die Empfindungen in ihnen weit über ihre Grenzen hinaus zu treiben. Anonyme Rezension in: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Literatur, 1775: Der Hauptvorzug dieses Romans besteht in der vollkommenen Bearbeitung des Charakters der Hauptperson, der so ein Ganzes ausmacht ..., dass man sich kein wahreres und nach der Natur getreuer gezeichnetes Bild eines menschlichen Charakters vorstellen kann. Die Schlusskatastrophe entspringt nicht nur natürlich aus dem Charakter, hier sieht man, dass es unmöglich ist, dass die Katastrophe nicht erfolge. Kurz, „Die Leiden des jungen Werthers“ sind die allervortrefflichste Erläuterung durch ein Beispiel von dem Satze: Die Menschen werden zu ihren jedesmaligen Handlungen durch die zusammengesetzte Wirkung der Umstände und ihres Charakters unwiderstehlich bestimmt. 9. Setzen Sie sich mit den Rezensionen auseinander: • Nennen Sie die jeweiligen Kritikpunkte. • Diskutieren Sie, wie das Werk heute wahrgenommen wird. 10. Verfassen Sie anschließend eine Rezension. Gehen Sie sowohl auf den Inhalt als auch auf die formale und sprachliche Umsetzung ein. Die heftigen Reaktionen sind wohl auch auf den Umstand zurückzuführen, dass die Romanleserinnen und Romanleser der damaligen Zeit gewohnt waren, von der Autorin bzw. vom Autor eine klare moralische Bewertung des Geschehens mitgeliefert zu bekommen. Goethe tat dies nicht, er verurteilte seinen Werther nicht, eher die Gesellschaft, die dem Selbstmörder ein christliches Begräbnis verweigerte. Die erste Fassung des Romans wurde bis 1790 etwa 30 Mal gedruckt, die zweite Fassung etwa 25 Mal bis zu Goethes Tod. Goethe notierte am 30. April 1780 in sein Tagebuch: „Las meinen ,Werther’, seit er gedruckt ist, das erste Mal ganz und verwunderte mich.“ Der DDR-Autor Ulrich Plenzdorf (1934 – 2007) schrieb mit Die neuen Leiden des jungen W. (sowohl als Drama als auch als Roman) 1972 Neufassungen dieses Stoffes, die in der DDR angesiedelt waren und die direkt auf den Werther Goethes Bezug nehmen. Die Stimmung der beiden Protagonisten ist ähnlich, die Texte unterscheidet lediglich das Ende der Handlung vom ursprünglichen Text Goethes. Später diente dieser Text auch der Vorlage für einen Film (1975). 5 10 5 Lektüre-Vorschlag Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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