Killinger Literaturkunde, Schulbuch

118 RÄUBER MOOR (vom Pferde springend): Freiheit! Freiheit! – – Du bist im Trocknen, Roller! Führ meinen Rappen ab, Schweizer, und wasch ihn mit Wein. (Wirft sich auf die Erde.) Das hat gegolten! RAZMANN (zu Roller): Bist du vom Rad auferstanden? SCHWARZ: Bist du sein Geist? oder bin ich ein Narr? oder bist du’s wirklich? ROLLER (in Atem): Ich bin’s. Leibhaftig. Ganz. Wo glaubst du, dass ich herkomme? SCHWARZ: Da frag die Hexe! Der Stab war schon über dich gebrochen. ROLLER: Das war er freilich, und noch mehr. Ich komme recta1 vom Galgen her. Lass mich nur erst zu Atem kommen. Der Schweizer wird dir erzählen. Gebt mir ein Glas Branntwein! – Du auch wieder da, Moritz? Ich dachte, dich woanders wiederzusehen. – Gebt mir doch ein Glas Branntwein! meine Knochen fallen auseinander – o mein Hauptmann! wo ist mein Hauptmann? SCHWARZ: Gleich, gleich! – so sag doch, so schwätz doch! Wie bist du davongekommen? Wie haben wir dich wieder? Der Kopf geht mir um. Vom Galgen her, sagst du? ROLLER (stürzt eine Flasche Branntwein hinunter): Ah! das schmeckt, das brennt ein! – Gerades Wegs vom Galgen her, sag’ ich. Ihr steht da und gafft, und könnt’s nicht träumen – ich war auch nur drei Schritte von der Sackermentsleiter2, auf der ich in den Schoß Abrahams3 steigen sollte – so nah, so nah – war dir schon mit Haut und Haar auf die Anatomie verhandelt! Hättest mein Leben um’n Prise Schnupftabak haben können. Dem Hauptmann dank’ ich Luft, Freiheit und Leben. SCHWEIZER: Es war ein Spaß, der sich hören lässt. Wir hatten den Tag vorher durch unsere Spione Wind gekriegt, der Roller liege tüchtig im Salz4, und wenn der Himmel nicht bei Zeit noch einfallen wollte, so werde er morgen am Tag – das war heute – den Weg allen Fleisches gehen müssen. Auf! sagte der Hauptmann, was wiegt ein Freund nicht? – Wir retten ihn oder retten ihn nicht, so wollen wir ihm wenigstens doch eine Todesfackel anzünden, wie sie noch keinem Könige geleuchtet hat, die ihnen den Buckel braun und blau brennen soll. Die ganze Bande wird aufgeboten. Wir schicken einen Expressen5 an ihn, der’s ihm in einem Zettelchen beibrachte, das er ihm in die Suppe warf. ROLLER: Ich verzweifelte an dem Erfolg. SCHWEIZER: Wir passten die Zeit ab, bis die Passagen leer waren. Die ganze Stadt zog dem Spektakel nach, Reiter und Fußgänger durcheinander und Wagen, der Lärm und der Galgenpsalm6 johlten weit. Jetzt, sagte der Hauptmann, brennt an, brennt an! Die Kerle flogen wie Pfeile, steckten die Stadt an dreiunddreißig Ecken in Brand, warfen feurige Lunten7 in die Nähe des Pulverturms, in Kirchen und Scheunen – Morbleu!8 es war keine Viertelstunde vergangen, der Nordostwind, der auch seinen Zahn auf die Stadt haben muss, kam uns trefflich zustatten und half die Flammen bis hinauf in die obersten Giebel jagen. 15 20 25 30 35 40 45 1 recta: auf direktem Weg 2 Sackermentsleiter: Leiter zum Empfang der Sterbesakramente 3 Schoß Abrahams: Ort des Wartens, bevor der Messias den Verstorbenen die Pforten des Himmels öffnet 4 im Salz liegen: in Bedrängnis, gefangen sein 5 Express: hier: Eilbote 6 Galgenpsalm: gesungen von Schulkindern, die den Verurteilten zur Hinrichtungsstätte begleiteten 7 Lunte: langsam glühende Zündschnur 8 Morbleu: französischer Fluch („beim Tod Gottes“) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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