Killinger Literaturkunde, Schülerband

122 Tochter Klara, die sich nicht nur ihrem Bräutigam, sondern auch einem früheren Jugendfreund hingegeben hat, in die Katastrophe. Die naturalistischen Dramen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben wurden, stellen zwar auch Konflikte innerhalb des Bürgertums dar, das vielfach mit seinen seelischen Problemen nicht mehr fertig wird. Doch der Schwerpunkt der Tragödie verschiebt sich vom Bürgertum auf den Arbeiterstand. Eines der bekanntesten bürgerlichen Trauerspiele ist Schillers Kabale und Liebe (1784), in dem er sich seinen Zorn über die Verkommenheit der Höflinge, über die an vielen Fürstenhöfen üblichen Intrigen (= Kabalen), Lügen und Erpressungen von der Seele schrieb. Die Liebesbeziehung zwischen Luise, der Tochter des Musikus Miller, und Ferdinand von Walter, dem Sohn des Präsidenten, ist Miller ein Dorn im Auge, da er fürchtet, dass der Standesunterschied die Beziehung zum Scheitern bringen wird und seine Tochter damit ihre Ehre verliert. Friedrich Schiller: Kabale und Liebe (1784) Erster Akt, erste Szene Zimmer beim Musikus Miller1 steht eben vom Sessel auf und stellt sein Violoncello auf die Seite. An einem Tisch sitzt Frau Millerin noch im Nachtgewand und trinkt ihren Kaffee. MILLER (schnell auf und ab gehend): Einmal für allemal. Der Handel wird ernsthaft. Meine Tochter kommt mit dem Baron2 ins Geschrei. Mein Haus wird verrufen. Der Präsident3 bekommt Wind, und – kurz und gut, ich biete dem Junker aus4. FRAU: Du hast ihn nicht in dein Haus geschwatzt – hast ihm deine Tochter nicht nachgeworfen. MILLER: Hab’ ihn nicht in mein Haus geschwatzt – hab ihm’s Mädel nicht nachgeworfen; wer nimmt Notiz davon? – Ich war Herr im Haus. Ich hätt’ meine Tochter mehr coram nehmen5 sollen. Ich hätt’ dem Major6 besser auftrumpfen sollen – oder hätt’ gleich alles Seiner Exzellenz, dem Herrn Papa, stecken sollen. Der junge Baron bringt’s mit einem Wischer hinaus7, das muss ich wissen, und alles Wetter kommt über den Geiger.8 FRAU (schlürft eine Tasse aus): Possen! Geschwätz! Was kann über dich kommen? Wer kann dir was anhaben? Du gehst deiner Profession nach und raffst Scholaren9 zusammen, wo sie zu kriegen sind. MILLER: Aber, sag mir doch, was wird bei dem ganzen Kommerz10 auch herauskommen? – Nehmen kann er das Mädel nicht. Vom Nehmen ist gar die Rede nicht, und zu einer – dass Gott erbarm! – Guten Morgen! – Gelt, wenn so ein Musje11 von sich da und dort und dort und hier schon herumbeholfen hat, wenn er, der Henker weiß was alles gelöst hat, schmeckt’s meinem guten Schlucker freilich, einmal auf süß Wasser zu graben12. 5 1 Miller: Stadtmusiker in einer deutschen Residenzstadt, dem Sitz eines Fürsten 2 Baron: Ferdinand von Walter, ein junger Offizier, der Sohn des Präsidenten Walter 3 Präsident: Ferdinands Vater. Er hat großen Einfluss und viel Macht am fürstlichen Hof. 4 biete dem Junker aus: Ich verbiete ihm mein Haus. 5 coram nehmen: zur Rede stellen, scharf tadeln 6 Major: Ferdinand von Walter 7 mit einem Wischer hinaus: kommt mit einem Verweis davon 8 Geiger: Musikus Miller, der Vater von Luise 9 Scholaren: (Musik-)Schüler 10 Kommerz: Handel, Angelegenheit 11 Musje: Monsieur, Herr 12 auf süß Wasser zu graben: es auf ein unbescholtenes Mädchen abgesehen haben 10 15 20 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy MTA2NTcyMQ==