Killinger Literaturkunde, Schulbuch

148 BILDUNGS- UND ENTWICKLUNGSROMAN Die bevorzugte Dichtungsgattung der Klassiker war das Drama. Der Roman galt als unreine Form, als „Halbbruder der Poesie“ (Schiller). Dennoch hat Goethe in seiner klassischen Zeit Romane geschrieben, die sein Bildungs- und Persönlichkeitsideal widerspiegeln. Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) ist ein Bildungs- und Entwicklungsroman. Es wird die geistige Entwicklung eines jungen Menschen in Auseinandersetzung mit den Einflüssen der Umwelt dargestellt. Im Endstadium dieser Entwicklung setzt sich das Bildungsideal des Dichters und seiner Epoche durch. Goethes Wilhelm Meister ist das Urbild des deutschen Entwicklungsromans, ihm folgen die Künstlerromane der Romantik (etwa Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenbergs Heinrich von Ofterdingen, 1802), später Der Nachsommer (1857) von Adalbert Stifter und Der grüne Heinrich (mehrere Versionen ab 1854) von Gottfried Keller. Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) Als Wilhelm seine Mutter des andern Morgens begrüßte, eröffnete sie ihm, dass der Vater sehr verdrießlich sei und ihm den täglichen Besuch des Schauspiels nächstens untersagen werde. „Wenn ich gleich selbst“, fuhr sie fort, „manchmal gern ins Theater gehe, so möchte ich es doch oft verwünschen, da meine häusliche Ruhe durch eine unmäßige Leidenschaft zu diesem Vergnügen gestört wird. Der Vater wiederholt immer, wozu es nur nütze sei, wie man seine Zeit nur so verderben könne.“ „Ich habe es auch schon von ihm hören müssen“, versetzte Wilhelm, „und habe ihm vielleicht zu hastig geantwortet; aber um’s Himmels willen, Mutter! ist denn alles unnütz, was uns nicht unmittelbar Geld in den Beutel bringt, was uns nicht den allernächsten Besitz verschafft? Hatten wir in dem alten Haus nicht Raum genug? Und war es nötig, ein neues zu bauen? Verwendet der Vater nicht jährlich einen ansehnlichen Teil seines Handelsgewinnes zur Verschönerung der Zimmer? Diese seidenen Tapeten, diese englischen Mobilien, sind sie nicht auch unnütz? Könnten wir uns nicht mit geringeren begnügen? Wenigstens bekenne ich, dass mir diese gestreiften Wände, diese hundertmal wiederholten Blumen, Schnörkel, Körbchen und Figuren einen durchaus unangenehmen Eindruck machen. Sie kommen mir höchstens vor wie unser Theatervorhang. Aber wie anders ist’s, vor diesem zu sitzen! Wenn man noch so lange warten muss, so weiß man doch, er wird in die Höhe gehen, und wir werden die mannigfaltigsten Gegenstände sehen, die uns unterhalten, aufklären und erheben.“ 7. Erörtern Sie die unterschiedlichen Lebensauffassungen der einzelnen Personen und arbeiten Sie den Gegensatz zwischen Eltern und Sohn heraus: • Vergleichen Sie die unterschiedlichen Einstellungen der Mutter und des Vaters. • Kommentieren Sie, worin Wilhelm die Aufgabe des Theaters sieht. • Stellen Sie Vermutungen darüber an, ob diese Auseinandersetzung – mit gewissen Veränderungen – auch heute noch so ablaufen könnte. Wilhelms Einstellung zu seinem Leben zeigt sich auch in einem Brief an seinen Freund Werner, in dem er schreibt: Daß ich dir’s mit einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht. Noch hege ich ebendiese Gesinnungen, nur daß mir die Mittel, die mir es möglich machen werden, etwas deutlicher Bildungsideal 5 10 15 20 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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