Killinger Literaturkunde, Schulbuch

188 Johann Nestroy (1801 – 1862) Im Gegensatz zu Raimund prangerte Johann Nestroy in seinen Werken die Charakterfehler seiner Mitmenschen und die Mängel seiner Zeit an, ohne eine idealere, schönere Welt aufzuzeigen. Er schrieb keine „Zaubermärchen“, sondern Possen, die den Menschen einen kritischen Spiegel vor Augen halten sollten. Damit sich die Menschen dieser Kritik öffnen, zeichnete er seine Figuren mit Humor und Witz, der auch satirisch-bissig werden kann. Der Spiegel wird zum Zerrspiegel, der die Mängel vergrößert. Neben die Komik, die durch das Spiel, die Mimik und Gestik entsteht, tritt der Wortwitz. Nestroy umging die Zensur, indem er in seinen Stücken Platz für Improvisationen ließ. Zudem wird die Handlung immer wieder durch Gesangsstücke, so genannte Couplets, unterbrochen, in denen Kritik an den Verhältnissen geübt wird. Nestroy hat mehr als zwei Drittel seiner insgesamt 83 Stücke nach Vorlagen erarbeitet. Wenn man bedenkt, dass er pro Jahr durchschnittlich drei Theaterstücke schrieb und daneben noch seine Rollen lernen, proben, die Stücke inszenieren und abends spielen musste, bekommt man eine Vorstellung davon, wie rasch die Produktion vor sich gegangen sein muss. Nestroy, der sehr belesen war, fand seine Stoffe vor allem in deutschen, englischen und französischen Stücken, aber auch in Prosawerken. Manchmal übernahm er nur einige Motive, manchmal das äußere Handlungsgerüst, mitunter aber begnügte er sich mit einer – freilich recht freien – Übertragung der Vorlage ins Wienerische. Eine solche Übertragung eines französischen Stücks ist Der Talisman (1840). Der Talisman (1840) Die Hauptfigur, Titus Feuerfuchs, ist rothaarig und damit als Außenseiter abgestempelt. Titus ist das Gespött der Leute. Da spielt ihm das Schicksal eine schwarze Perücke in die Hand, mit der er nun Karriere macht, zuerst bei der Herrschaftsgärtnerin Flora Baumscher: ERSTER AKT, SECHZEHNTE SZENE FLORA (zur Mitte auftretend) FLORA: Das Unkraut Gall’ und Verdruss wachst mir jetzt schon zu dick auf mein’ Geschäftsacker, ich kann’s nicht mehr allein ausjäten. Mein seliger Mann hat kurz vorher, als er selig worden ist, g’sagt, ich soll Wittib1 bleiben – wie kann ein seliger Mann so eine unglückselige Idee haben? Die Knecht’ haben keine Furcht, kein’ Respekt, ich muss ihnen einen Herrn geben, dessen Frau ich bin. Mein Seliger wird den Kopf beuteln in die Wolken! Wann er mir etwan gar als Geist erscheinet, wann’s auf einmal so klopfet bei der Nacht – (es wird an die Tür geklopft; ängstlich aufschreiend) ah! (Hält sich wankend am Tische.) SIEBZEHNTE SZENE FLORA, TITUS (mit schwarzer Perücke zur Mitte hereinstürzend) TITUS: Is ein Unglück g’schehn? Oder kirren2 Sie vielleicht jedes Mal so statt ’m Hereinsagen? FLORA (sich mühsam fassend): Nein, bin ich erschrocken! TITUS (für sich): Seltenes Geschöpf, sie erschrickt, wenn einer anklopft! Sonst ist den Frauenzimmern nur das schrecklich, wann keiner mehr anklopft. FLORA: Der Herr wird sich drüber wundern, dass ich so schwache Nerven hab’? Possen Nestroys Arbeitsweise 5 10 1 Wittib: Witwe 2 kirren: durchdringend schreien 15 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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