Killinger Literaturkunde, Schulbuch

REALISMUS | 1850 – 1885 205 Das Spiel der Phantasie mit sich selbst, das Feuerwerk auf dem Wasser, das die neuere Romantik uns vorgemacht hat: dieß war es, was mir vorschwebte als das Uebel, gegen das ich den Damm der Objectivität errichten müsse. „Poetisch“ und „Realismus“ scheinen zunächst unvereinbar; denn „poetisch“ bedeutet eigentlich so viel wie: freie Schöpfung der Phantasie, und Realismus ist Bindung an die Wirklichkeit, Nachahmung der Natur. Das bloße Schildern der Realität wurde für einen „Irrweg und ein Verkennen des eigensten innersten Wesens der Kunst“ (Fontane) gehalten. Realistische Kunst bezieht zwar ihre stofflichen Elemente unmittelbar aus der Wirklichkeit, aber sie gestaltet daraus eigengesetzliche Gebilde. Sie verwandelt die Wirklichkeit in Poesie (Poetisierung). „[…] es bleibt nun mal ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Bilde, das das Leben stellt, und dem Bilde, das die Kunst stellt; der Durchgangsprozess, der sich vollzieht, schafft […] eine rätselhafte Modelung, und an dieser Modelung haftet die künstlerische Wirkung, die Wirkung überhaupt“, schreibt Fontane. Und Gottfried Keller unterstreicht die „Reichsunmittelbarkeit der Poesie“, also ihr Recht und ihre Pflicht, sich keinen anderen Gesetzen als den ihr innewohnenden zu unterwerfen. Der poetische Realismus will die erfahrbare Welt unparteiisch schildern. Selbst die Meinung und das Gefühl der Dichterin oder des Dichters sollen außerhalb der Darstellung bleiben. Damals glaubte man noch, dass man genau sagen könne, was wirklich ist, was den Objekten zugehört und was vom Subjekt stammt. Die realistischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller waren gegen jede die Wirklichkeit verfälschende Tendenz. Deswegen meinten sie, politisch und gesellschaftspolitisch nicht Partei ergreifen zu dürfen, und hassten das Pathos. Sie wollten den Menschen in seinem Alltag, bei seiner bürgerlichen Arbeit, in seiner Familie so darstellen, wie er „wirklich“ ist. Und sie wollten keinen gesellschaftlichen und kulturellen Gegenentwurf zu den herrschenden Verhältnissen liefern, wie dies vorangegangene Epochen getan hatten. Die Wirklichkeit sollte illusionslos beobachtet werden, wobei nur ein bestimmter Ausschnitt der Wirklichkeit aufgenommen wurde – und der aus einer bestimmten Blickrichtung. Da fast alle realistischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem Bürgertum und Kleinbürgertum kamen, sahen sie vor allem diese ihre Welt, aber kaum die der Arbeiterschaft. Das proletarische Milieu und die damit verbundene soziale Problematik wurden in Deutschland erst im Naturalismus gegen Ende des Jahrhunderts programmatisch thematisiert. Nicht in Industriezentren und Großstädten spielt die Handlung realistischer Erzählungen, sondern in der Kleinstadt oder auf dem Land (Dorfgeschichte). Die Figuren sind häufig aus dem Kleinbürgertum, der Bauernschaft, zum Teil sonderbare Käuze. Nicht das öffentliche Geschehen, die große Politik, bildet den Hintergrund, sondern die kleine, enge Welt des Privaten. Eine Ausnahme ist Conrad Ferdinand Meyer, dessen Novellen in der Vergangenheit (16., 17. Jahrhundert) spielen und welthistorische Ereignisse darstellen, in deren Mittelpunkt bedeutende Persönlichkeiten stehen. Kennzeichnend für die Erzählung des Realismus ist die Rahmentechnik: Die Erzählfigur erinnert sich an eine Begebenheit aus ihrem Leben oder an eine alte Chronik, in der die dann folgende Geschichte erzählt ist. Manchmal hat sie eine eigene Biographie, so z. B. in Theodor Storms Novelle Der Schimmelreiter: Der Lehrer erzählt in der Wirtsstube die Geschichte des Deichgrafen Hauke Haien, als eben ein furchtbares Unwetter die Deiche bedroht. Die Erzählungen bekommen durch den Rahmen den Anstrich eines Berichtes über reales vergangenes Geschehen. Sie sollen als erlebte Wirklichkeit erscheinen, nicht als phantastische Erfindungen. Sprachlich gesehen herrscht die Prosa als die natürlichste Redeweise vor. Der Stil ist einfach; er vermeidet Extreme, wie Pathos und Ausbrüche, ist nüchtern, aber gefeilt. Der poetische Realismus ist gekennzeichnet durch einen epischen Grundzug. Mit Behagen werden Milieu- und Zustandsschilderungen geboten. Die bevorzugte Gattungsform ist die Novelle, die im Realismus den Höhepunkt ihrer Entwicklung in der deutschen Literatur erreicht (vgl. S. 158). Poetische Wiedergabe der Wirklichkeit Schilderung der bürgerlichen Welt Erzählende Formen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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