206 Der Roman tritt im Realismus in verschiedenen Formen auf: als Entwicklungsroman in der Nachfolge Goethes, als historischer Roman und Zeitroman sowie als Gesellschafts- und Familienroman. Auf das Drama wird weitgehend verzichtet. Eine Ausnahme bildet Friedrich Hebbel, der zwar zu dieser Zeit schreibt, allerdings nicht im Stil des Realismus im engeren Sinn; er steht in der Nachfolge der Klassik. In der Lyrik werden das Erlebnisgedicht und das Stimmungsgedicht der Romantik fortgesetzt. Hauptvertreter ist Theodor Storm. C. F. Meyer (vgl. S. 211) führt das so genannte Dinggedicht ein, das später im Symbolismus einen bedeutenden Platz einnimmt (vgl. S. 235). Eine wichtige Rolle als Ausdrucksform spielt die Lyrik im Realismus aber nicht. „Der große Umschwung, der dem Realismus zum Siege verhalf“, wurde nach den Worten Theodor Fontanes durch die folgende, damals revolutionäre Zielsetzung herbeigeführt: Gegenwart, nicht Vergangenheit, Wirklichkeit, nicht Schein, Prosa, nicht Vers. REALISTISCHE ERZÄHLERINNEN UND ERZÄHLER Die realistischen Erzählerinnen und Erzähler beziehen sich meist ganz konkret auf die Gegenwart, auf die Realität ihrer Zeit. Ihr Programm, die ganze Wirklichkeit zu erfassen, verweist sie vor allem auf die Darstellung des einfachen Lebens der kleinen, unverbildeten Leute. Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla (1856) Gottfried Keller (1819 – 1890) rät dem Volksdichter, „die Würde der Menschheit im Volke aufzusuchen und sie demselben in seinem eigenen Tun und Lassen nachzuweisen.“ Zur Fülle des Wirklichen gehört das Alltägliche, Banale, das Nicht-Erhabene, wie der Ausschnitt aus der Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe aus diesem Novellenzyklus zeigt: Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856) Dies (das Angeln) war auch eine Hauptbeschäftigung der Seldwyler. Bei günstigem Wetter, wenn die Fische gern anbissen, sah man sie dutzendweise hinauswandern mit Rute und Eimer, und wenn man an den Ufern des Flusses wandelte, hockte alle Spanne lang einer, der angelte: der eine in einem langen Bürgerrock, die bloßen Füße im Wasser, der andere in einem spitzen blauen Frack auf einer alten Weide stehend, den alten Filz schief auf dem Ohre; weiterhin angelte da einer im zerrissenen, großblumigen Schlafrock, da er keinen anderen mehr besaß, die lange Pfeife in der einen, die Rute in der andern Hand, und wenn man um eine Krümmung des Flusses bog, stand ein alter kahlköpfiger Dickbauch faselnackt auf einem Stein und angelte; dieser hatte, trotz des Aufenthaltes am Wasser, so schwarze Füße, dass man glaubte, er habe die Stiefel anbehalten. Jeder hatte ein Töpfchen oder ein Schächtelchen neben sich, in welchem Regenwürmer wimmelten, nach denen sie zu andern Stunden zu graben pflegten. In der Novelle Die drei gerechten Kammmacher aus demselben Zyklus gibt Gottfried Keller aus ironischer Distanz ein Bild von der Banalität des „typischen“ Feiertags eines verschrobenen Handwerksgesellen: Gegenwart, Wirklichkeit, Prosa 5 10 Wiedergabe des Banalen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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