REALISMUS | 1850 – 1885 209 „… Und nun Deine Zukunft, meine liebe Effi. Du wirst Dich auf Dich selbst stellen müssen und darfst dabei, soweit äußere Mittel mitsprechen, unserer Unterstützung sicher sein. Du wirst am besten in Berlin leben (in einer großen Stadt vertut sich dergleichen am besten) und wirst da zu den vielen gehören, die sich um freie Luft und lichte Sonne gebracht haben. Du wirst einsam leben, und wenn Du das nicht willst, wahrscheinlich aus Deiner Sphäre herabsteigen müssen. Die Welt, in der Du gelebt hast, wird Dir verschlossen sein. Und was das Traurigste für uns und für Dich ist (auch für Dich, wie wir Dich zu kennen vermeinen) – auch das elterliche Haus wird Dir verschlossen sein, wir können Dir keinen stillen Platz in Hohen-Cremmen anbieten, keine Zuflucht in unserem Hause, denn es hieße das, dies Haus von aller Welt abschließen, und das zu tun, sind wir entschieden nicht geneigt. Nicht weil wir zu sehr an der Welt hingen und ein Abschiednehmen von dem, was sich ‚Gesellschaft‘ nennt, uns als etwas unbedingt Unerträgliches erschiene; nein, nicht deshalb, sondern einfach, weil wir Farbe bekennen und vor aller Welt, ich kann Dir das Wort nicht ersparen, unsere Verurteilung Deines Tuns, des Tuns unseres einzigen und von uns so sehr geliebten Kindes, aussprechen wollen …“ Das Motiv der Ehebrecherin wird im Realismus häufig behandelt. In der Regel gehört die Ehebrecherin der „guten Gesellschaft“ an, weil diese auf einen solchen Fehltritt besonders heftig reagierte und dadurch Symptome ihrer inneren Struktur sinnfällig werden ließ. 3. Setzen Sie sich anhand dieser Textstellen mit den Gründen für das Handeln von Innstetten und den Eltern auseinander: • Fassen Sie die Begründungen Innstettens und der Eltern zusammen. • Erörtern Sie, ob und wie auch heutzutage (Moral-)Vorstellungen seitens Gesellschaft, Religion, Familie, Freundeskreis usw. Menschen zu Handlungen veranlassen, die sie möglicherweise gar nicht wollen. • Nehmen Sie Stellung zur Sinnhaftigkeit solcher Normen. Die aus Mähren stammende Marie von Ebner-Eschenbach (1830 – 1916) gehört zu den wichtigsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zunächst versuchte sie sich als Dramatikerin, erkannte aber dann ihr Talent als Erzählerin. Ihre epischen Texte (Romane, Erzählungen, Novellen …) sind gekennzeichnet durch einen realistischen Erzählstil und feine Charakterstudien. Zu ihren wichtigsten Werken zählen Bozena (1876), Dorf- und Schlossgeschichten (1883, darin Krambambuli), Er lass‘ die Hand küssen (1886) und Das Gemeindekind (1887). Marie von Ebner-Eschenbach: Die Totenwacht (1894) Im folgenden Ausschnitt aus der Totenwacht wird das Zusammentreffen der aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Anna am Totenbett ihrer Mutter mit Georg, einem begüterten Mann, wiedergegeben, den sie bereits seit ihrer Kindheit kennt und der sie als Jugendliche vergewaltigt. Sie bringt das Kind schließlich zur Welt, das aber nach kurzer Zeit stirbt. Georg möchte die Situation ausnützen und bietet ihr – schlussendlich vergeblich – an, ihn zu heiraten. «Geh! Geh!» rief sie aus und ballte die Faust gegen ihn. «Damal‘n hast dich an mir versündigt, schrecklich, fürchterlich… nicht zum Sagen! Just wie ich Vertrauen g‘faßt hab, just wie ich g‘meint hab: so arg bös is er doch nicht, bist über mich herg‘fallen wie ein wildes Tier, daß ich mir nicht hab helfen können, mich nicht hab retten können vor dir 20 25 30 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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