Killinger Literaturkunde, Schulbuch

REALISMUS | 1850 – 1885 211 LYRIK DES POETISCHEN REALISMUS Das lyrische Werk des Schweizer Autors Conrad Ferdinand Meyer (1825 – 1898) ist charakteristisch für die Dichtkunst des poetischen Realismus und gilt als frühe Form des Symbolismus (vgl. S. 235). C. F. Meyer hielt sich 1870 in Rom auf und saß oft im Park der Villa Borghese. Dort entstand die erste Fassung des Gedichts: Conrad Ferdinand Meyer: Der römische Brunnen (1870) In einem römischen Garten verborgen ist ein Bronne1, behütet von dem harten Geleucht der Mittagssonne, Die Wasser steigen nieder in zweiter Schale Mitte, und voll ist diese wieder, sie flutet in die dritte: er steigt in schlankem Strahle in dunkle Laubesnacht und sinkt in eine Schale und übergießt sie sacht. Ein Nehmen und ein Geben, und alle bleiben reich, und alle Fluten leben und ruhen doch zugleich. Noch im selben Jahr hat Meyer das Gedicht überarbeitet: Der Springquell plätschert und ergießt sich in der Marmorschale Grund; die, sich verschleiernd, überfließt in einer zweiten Schale Rund. Und diese gibt, sie wird zu reich, der dritten wallend ihre Flut, und jede nimmt und gibt zugleich und alles strömt und alles ruht. Die letzte Fassung entstand zwölf Jahre später, 1882: Aufsteigt der Strahl, und fallend gießt er voll der Marmorschale Rund, die, sich verschleiernd, überfließt in einer zweiten Schale Grund; die zweite gibt, sie wird zu reich, der dritten wallend ihre Flut, und jede nimmt und gibt zugleich und strömt und ruht. 6. Untersuchen Sie die verschiedenen Versionen dieses Gedichts: • Zeigen Sie die Unterschiede zwischen den einzelnen Fassungen auf (z. B. Länge, Wortwahl, Versmaß). • Vergleichen Sie den Anfang der ersten mit dem Anfang der letzten Fassung. • Erläutern Sie, wofür „Der römische Brunnen“ ein Symbol sein könnte. KRITISCHER REALISMUS In Frankreich wurde schon Mitte des 19. Jahrhunderts eine Forderung laut, die allmählich in den Naturalismus hinüberleitete: die Forderung, ohne jede persönliche Stellungnahme und ohne eine Spur von Teilnahme am Geschick der epischen Figuren zu erzählen. Die erzählende Figur möchte ein Geschehen objektiv, neutral darstellen. Überarbeitung eines Textes 1 Bronne: Brunnen 2 10 12 4 6 8 14 16 2 4 6 8 2 4 6 8 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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