Killinger Literaturkunde, Schulbuch

212 Neutrales Erzählverhalten Auktoriales Erzählverhalten Es erweckt in der Leserin oder im Leser den Eindruck, das Geschehen spiele sich unmittelbar vor ihr bzw. ihm ab (ähnlich wie bei einem Film). Sie bzw. er sei selbst Zeuge und nicht abhängig von einer auktorialen Erzählfigur. Die Erzählfigur tritt damit hinter das Geschehen zurück und überlässt die Beurteilung dem Leser/der Leserin. Sie ist nicht unmittelbar zu erkennen. Die Erzählfigur tritt als Vermittler zwischen Geschichte und Lesepublikum auf; sie erläutert und beurteilt das Geschehen, stellt einen direkten Kontakt zu den Lesenden her. (Vgl. S. 443) Gustave Flaubert: Madame Bovary (1857) Gustave Flaubert (1821 – 1880) beschreibt in seinem Roman Madame Bovary den menschlich und beruflich gleich unbedeutenden Landarzt Charles Bovary: Charles kehrte abends erst um elf heim; seit dem Morgen hatte er nichts gegessen. Da das Dienstmädchen schon schlief, musste Emma ihm auftragen; er zog den Rock aus, um es beim Essen bequemer zu haben. Der im Lauf des Tages vergossene Schweiß hatte sein Ärmelfutter verfärbt und unter den Achseln zwei grüne Flecken auf seinem Hemd gebildet. Seine Hände waren schmutzig von der Reibung des Pferdezügels, und auf seiner Nase war zwischen den Augen ein roter Streifen vom Hüpfen seiner Brille, denn da er schlecht sah, trug er bei Dunkelheit unterwegs eine Brille. […] zufrieden mit seinem Tagesablauf aß er den Rest der gezwiebelten Rindfleischschnitten, schabte lächelnd seinen Käse sauber, knabberte einen Apfel, trank die Karaffe aus, worauf er zu Bett ging, nach dem Wein roch, den er getrunken hatte, auf dem Rücken einschlief und nach Leibeskräften schnarchte. Immer schlief er mit offenem Mund auf dem Rücken. Da er mit der Gewohnheit, eine baumwollene Nachtmütze zu tragen, aufgewachsen war, blieb sein schlecht geknüpfter Schal ihm nicht auf dem Kopf sitzen, und am Morgen war sein Haar struppig und voll von den Daunen seines Kopfkissens, dessen Nähte sich während der Nacht gelockert hatten. Er war ein vernünftiger Mensch, er legte keinen Wert auf Toilette. Zu jeder Jahreszeit trug er derbe Stiefel, und wenn sie durchgetreten waren, ließ er sie neu besohlen. Seine eng anliegende Hose ließ seine Waden hervortreten, und da sie nicht weit genug herabreichte, bildeten sich am Stiefelspann zu den Fußgelenken hin drei dicke Falten. 7. Überprüfen Sie, welche erzählerischen und sprachlichen Mittel auf ein neutrales Erzählverhalten hinweisen. Der französische Autor Stendhal wollte den Roman als einen Spiegel verstanden wissen. „Auf wessen Seite steht der Spiegel?“, fragt er, und: „Ist der Spiegel schuld, wenn hässliche Menschen daran vorbeigegangen sind?“ Das Bemühen um unbedingte, ungerührte Objektivität führte notwendigerweise zur Entdeckung des Abstoßenden, Beklemmenden, des Elends und der Kümmerlichkeit menschlichen Daseins. Laut Flaubert liefern die Geschichte, aber auch Biologie, Psychologie, Soziologie, Abstammungs- und Vererbungslehre die verbindlichen Grundlagen für die Darstellung des Menschen. So veranschaulicht er in Madame Bovary die Phasen des Sterbens durch die Wirkung von Gift bis in die Einzelheiten der Symptomatik. Emma Bovary hat Arsenik1 „wie Zucker“ gegessen, weil ihre Schulden durch Pfändung des gesamten Mobiliars der Eheleute eingebracht werden sollen. Um der Forderung des Realismus zu entsprechen, nur überprüfbare Wirklichkeit wiederzugeben, erkundigte sich Flaubert bei Ärzten ganz 5 10 15 Wissenschaftliche Grundlage für die Darstellung des Menschen 1 Arsenik: seit der Spätantike häufig verwendetes Gift Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==