NATURALISMUS | 1882 – 1910 215 NATURALISTISCHER ROMAN Der deutsche Naturalismus hat sich sehr spät entwickelt; er konnte sich nach folgenden Vorbildern richten: Frankreich: Émile Zola (Romane) Norwegen: Henrik Ibsen (Dramen) Russland: Leo Tolstoi, Fjodor Dostojewski (Romane). Heftige Diskussionen entbrannten um Dostojewskis Roman Schuld und Sühne (deutsche Übersetzung 1881), die Geschichte eines proletarischen Studenten, der zum Mörder wird, und um Émile Zolas (1840 – 1902) Roman Germinal, in dem unter dem Eindruck eines blutig niedergeschlagenen Bergarbeiterstreiks die Lebens- und Arbeitsbedingungen in einem nordfranzösischen Kohlerevier geschildert werden. Der Titel Germinal (nach dem „Keimmonat“ des französischen Revolutionskalenders) deutet auf das Aufkeimen der kommenden sozialen Revolution des Proletariats hin. Der Roman ist Teil eines umfangreichen Zyklus, in dem Zola an fünf Generationen zeigt, wie die Eigenschaften der Personen sich vererben und durch Umwelteinflüsse modifiziert werden. Der folgende Ausschnitt zeigt einen Morgen bei der Bergarbeiterfamilie Maheu, die in einem Massenquartier wohnt. Émile Zola: Germinal (1885) Jetzt beleuchtete die Kerze die viereckige, mit zwei Fenstern versehene Stube, die von den drei Betten fast ganz ausgefüllt war. Es gab da außerdem ein Spind, einen Tisch und zwei Stühle von altem Nußholz, deren dunkler, angerauchter Ton sich scharf von den hellgelb getünchten Mauern abhob. Sonst kein weiteres Einrichtungsstück; die Kleider hingen auf Nägeln. Auf den Fliesen stand ein Krug neben einer roten irdenen1 Schüssel, die als Waschbecken diente. In dem Bette zur Linken schlief Zacharie, der älteste Sohn, ein Bursche von einundzwanzig Jahren, mit seinem Bruder Jeanlin, der eben sein elftes Jahr vollendete. In dem Bette zur Rechten schliefen zwei kleinere Kinder, Léonore und Henri, die Erstere sechs, der Letztere vier Jahre alt, die einander in den Armen haltend dalagen. Catherine teilte das dritte Bett mit ihrer Schwester Alzire, die für ihre neun Jahre so schwächlich war, dass Catherine sie neben sich kaum gefühlt haben würde, wäre nicht der Höcker der Kleinen gewesen, den diese ihr in die Seiten stieß. Die mit Glasscheiben versehene Tür stand offen; man bemerkte den Gang, eine Art Schlauch, wo Vater und Mutter ein viertes Bett einnahmen, vor dem die Wiege der jüngsten Tochter stand, die Estelle hieß und erst drei Monate zählte. Bei der Familie Maheu, die das Häuschen Nr. 16 im zweiten Block bewohnte, rührte sich noch nichts. Die einzige Stube des ersten Stockwerkes lag in tiefe Finsternis gehüllt, die gleichsam mit ihrer Schwere den Schlaf der Wesen niederhielt, die auf einem Haufen, offenen Mundes, von Müdigkeit erdrückt, dalagen. Trotz der schneidenden Kälte, die draußen herrschte, lag hier in der dicken Luft eine lebendige Wärme, jene erstickende Schwüle, die man selbst in den ganz sauberen Stuben antrifft, wenn sie nach Menschenfleisch riechen. Die Kuckucksuhr der im Erdgeschoß gelegenen Wohnstube schlug die vierte Morgenstunde. Noch rührte sich nichts. Man vernahm zartes Atemholen, begleitet von dem geräuschvolleren Atmen zweier Schnarcher. Plötzlich richtete sich Catherine auf. In ihrer Schlaftrunkenheit hatte sie gewohnheitsmäßig die durch den Fußboden herauftönenden vier Schläge der Uhr gezählt, ohne die Kraft zu finden, vollends zu erwachen. Dann zog sie die Beine unter Französisches Vorbild 5 10 15 20 25 1 irden: aus gebranntem Ton gefertigt Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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