218 Im deutschsprachigen Raum wurde die Forderung nach einer unpersönlichen und leidenschaftslosen Schreibweise, die bei Flaubert schon erfüllt ist, erst vom Naturalismus verwirklicht: Die Erzählfigur darf in der Erzählung nirgendwo spürbar sein, sie darf sich nicht einmischen. Das heißt, sie darf nichts erläutern oder erklären, darf weder Sympathie für noch Abneigung gegen ihre Figuren und ihre Handlungen zeigen, und sie darf nicht urteilen. Unbeteiligt wie eine fotografische Linse hat sie die Wirklichkeit, die gesamte Wirklichkeit abzubilden (neutrales Erzählverhalten, vgl. S. 443). Bei der Wiedergabe von Wirklichkeit streben die naturalistischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach der Deckung von erzählter Zeit und Erzählzeit, das heißt, die Vorgänge werden in ihrem Ablauf gewissermaßen sekundenweise (sozusagen live) dargestellt. Was die Sinne registrieren (optische, akustische und andere Eindrücke), wird protokolliert. Diese Technik bezeichnet man als Sekundenstil (vgl. S. 444). Sie findet sich in der Epik ebenso wie im Drama. Hier ein Beispiel aus Papa Hamlet von Arno Holz (1863 – 1929) und Johannes Schlaf (1862 – 1942): Arno Holz und Johannes Schlaf: Papa Hamlet (1889) Zwölf! ... Erschöpft hatte sie sich wieder auf ihrem Fußbänkchen zurücksinken lassen. Der Ofen hinter ihr war eiskalt. Durch ihre Nachtjacke durch fühlte sie deutlich seine Kacheln. Sie fröstelte! Die letzten Töne draußen brummten und zitterten noch, das kleine Talglicht, das in eine leere, grüne Bierflasche gesteckt dicht vor ihr auf dem umgekippten Kistchen mitten zwischen dem Nähzeug stand, knitterte in der Kälte. Frau Wachtel nebenan schnarchte, der kleine Fortinbras hatte sich drüben in seinem Korb wieder unruhig auf die andere Seite gewälzt. Sein Atem ging rasselnd, stoßweise, als ob etwas in ihm zerbrochen war. Draußen auf das Fensterblech war eben wieder ein Eiszapfen geprasselt. Dicht davor, unterm Bett, jetzt deutlich das scharfe Nagen einer Maus. Zwölf! Sie hatte ihr Nähzeug wieder fallen lassen. Ihre Finger waren krumm zusammengezogen, sie konnte sie kaum noch aufkriegen. Um die Nägel herum waren sie blau angelaufen. Sie hauchte jetzt in sie hinein. Ihr Atem brodelte sich staubgrau um das kleine, zitternde Flämmchen. Eine verspätete Fliege, die dicht neben dem schwarzen Docht in den kleinen, runden Talgkessel1 drunter gefallen war, verkohlte langsam. Ab und zu knisterte es ... In Gerhart Hauptmanns (1862 – 1946) Novelle Bahnwärter Thiel (1888) wird ebenso im Sekundenstil eine Szene geschildert, die die Wirkung dieser Form besonders eindrucksvoll zeigt: Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel (1888) Auch die Geleise begannen zu glühen, feurigen Schlangen gleich, aber sie erloschen zuerst; und nun stieg die Glut langsam vom Erdboden in die Höhe, erst die Schäfte der Kiefern, weiter den größten Teil ihrer Kronen in kaltem Verwesungslichte zurücklassend, zuletzt nur noch den äußersten Rand der Wipfel mit einem rötlichen Schimmer streifend. Lautlos und feierlich vollzog sich das erhabene Schauspiel. Der Wärter stand noch immer regungslos an der Barriere. Endlich trat er einen Schritt vor. Ein dunkler Punkt am Horizonte, da wo die Geleise sich trafen, vergrößerte sich. Von Sekunde zu Sekunde wachsend, schien er doch auf einer Stelle zu stehen. Plötzlich bekam er Bewegung und näherte sich. Durch die Geleise ging ein Vibrieren und Summen, ein rhythmisches Geklirr, ein dumpfes Getöse, das, lauter und lauter werdend, zuletzt den Hufschlägen eines heranbrausenden Reitergeschwaders nicht unähnlich war. Deckung von erzählter Zeit und Erzählzeit 5 10 15 1 Talg: Tierfett (aus dem billige Kerzen hergestellt wurden) 5 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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