NATURALISMUS | 1882 – 1910 219 Ein Keuchen und Brausen schwoll stoßweise fernher durch die Luft. Dann plötzlich zerriß die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben erfüllte den Raum, die Geleise bogen sich, die Erde zitterte – ein starker Luftdruck – eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm, und das schwarze, schnaubende Ungetüm war vorüber. So wie sie anwuchsen, starben nach und nach die Geräusche. Der Dunst verzog sich. Zum Punkte eingeschrumpft, schwand der Zug in der Ferne, und das alte heil‘ge Schweigen schlug über dem Waldwinkel zusammen. Erzählte Zeit Zeitraum, über den sich die Handlung erstreckt, z. B. von 1920 bis 1934. Erzählzeit Zeit, die benötigt wird, eine Handlung zu erzählen, z. B. kann ein Hörbuch oder das Lesen eines Romans zehn Stunden dauern. NATURALISTISCHES DRAMA Im Naturalismus sollte ein neues Drama geschaffen werden, das darstellt, was die Nachahmerinnen und Nachahmer der Klassiker im 19. Jahrhundert darzustellen verabscheuten: die Wirklichkeit, den Alltag des Proletariats, des Kleinbürgertums. Es wurde keine neue Dramenform geschaffen; man versuchte, die drei Einheiten ungefähr einzuhalten und die Szenen logisch-kausal auseinanderzuentwickeln, weil dies der Wirklichkeit entspricht. Der Monolog und das Beiseitesprechen werden als unnatürliche Formen des Sprechens abgelehnt. Wichtig dagegen wird das stumme Spiel, das in umfangreichen Regieanweisungen vorgegeben wurde. Neu am naturalistischen Drama sind vor allem Sprache und Inhalt. Es geht nicht um Verstöße gegen das Sittengesetz, sondern um soziale Auseinandersetzungen, milieubedingte Familienkonflikte, Gegensätze zwischen „Vorder- und Hinterhaus“, wobei Angehörige des Proletariats als Hauptpersonen auf der Bühne stehen. Die Handlung ist jedoch nicht so wesentlich, sie ist nur das Mittel, Charaktere zu zeichnen. Es ist Weihnachten bei den Selickes, einer heruntergekommenen kleinbürgerlichen Berliner Familie mit vier Kindern zwischen 8 und 22 Jahren. Linchen, die Jüngste, ist todkrank. Sie spricht mit ihrer Mutter, die sie zärtlich „Mamachen“ nennt. Arno Holz und Johannes Schlaf: Die Familie Selicke (1890) LINCHEN: Ma-machen ... Ja? Ich – werde doch ... wieder gesund? FRAU SELICKE: Ja, gewiss, mein Mäuschen! ... Freilich! (Kleine Pause) LINCHEN: Ma-machen? ... FRAU SELICKE: Hm? LINCHEN (lächelnd): Kranksein ist hübsch! FRAU SELICKE: Ach Gott! ... Meine arme, dumme Kleine! ... Warum denn? (Beugt sich zärtlich zu Linchen hin.) LINCHEN: Weil ... weil du dann ... immer ... so ... gut bist ... 15 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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