Killinger Literaturkunde, Schulbuch

NATURALISMUS | 1882 – 1910 221 und Tüten vor. Unter den Arm hat er eine große weiße Tüte gequetscht. Er ist angetrunken. Taumelt aber nur sehr wenig und spricht alles deutlich, nur etwas langsam und schwerfällig. Sagt in sehr guter Laune): Na?! ... Habt ihr wieder kein Licht, ihr Tausendsakramenter, ihr? ... Hm? ... (Lacht fortwährend leise vor sich hin, nickt mit dem Kopf und macht ein pfiffiges Gesicht, als wenn er eine Überraschung vorhätte. Toni kommt ihm mit der Lampe nach. Setzt sich auf den Sofatisch.) Huaach! ... Ne! Wird man – müde ... wenn man so auf dem Weihnachtsmarkt rumläuft! ... (Lacht und blinzelt Toni zu, die am Sofatisch in seiner Nähe steht.) ... n’ hübscher Baum – hbf! – hä? ... Holt man morgen früh gleich die – hb! – Hütsche1 vom Boden! – Da! Nimm ihn hin! – (Gibt Toni den Baum; tut scherzhaft, als ob er sie erschrecken wollte. Sie lächelt gezwungen und stellt den Baum beiseite. Er lacht, wendet sich dann zum Tische und fängt an, seine Taschen auszupacken; singt dabei: „Nicht Ross, nicht Reisige2 ...“ (sich unterbrechend:) Wo sind denn ... die Jungens? TONI: Sie schlafen schon! SELICKE: Wie – hb! – Wie spät is denn – eigentlich? TONI: Zwei. SELICKE (tut sehr erstaunt): Was – Kuckuck! Zwei? – (Hebt, indem er weiter auspackt, abermals an): „Nicht Ross, nicht Reisige“ ... (Er nimmt aus einer Tüte zwei Pfannkuchen, geht damit auf die Kammer zu und ruft mit gedämpfter Stimme): He! Walter! – Walter! Willste noch’n Pfannkuchen? (Bekommt zuerst keine Antwort.) Na?! WALTER (in der Kammer, halb ängstlich): Ja! SELICKE: Da! Fang! (Wirft den Pfannkuchen nach Walters Bett hin und lacht.) Na, Großer! Du auch? (Albert antwortet nicht.) Eh! Frisst’n ja doch! Da! (Wirft auch ihm einen Pfannkuchen zu und geht dann vergnügt, leise vor sich hinpfeifend, zum Tisch zurück.) [...] Was machste denn für’n Gesicht? TONI: Ich? ... Oh, gar nicht, Vaterchen! SELICKE (misstrauisch): Ae! Red nich! ... Das heißt: Kommste wieder ... so spät, he? ... Ja, – ja, mein Töchterchen! ... Dein Vater darf sich wohl nich mal’n Tröppchen gönn’n? ... Was?! ... Ae, geh weg! Du altes dummes Fraunzimmer! [...] (Die Flurtür öffnet sich ein wenig. Frau Selicke lauscht durch den Türspalt.) Du liegst dein’m Vater immer noch – auf’m Halse! ... Ja, ja! ... Ae! Du! ... Geh weg! ... Ich mag dich nich mehr – sehn! ... (Für sich, indem er seitwärts tritt und an seinem Rocke herumzerrt, um ihn auszuziehen): Ae! Is das – ’ne Hitze! ... (Toni versucht ihm beim Ausziehen des Rockes behilflich zu sein. Selicke brummt missgelaunt vor sich hin): Mach, dass du wegkommst! ... Ich – brauch dich nicht! (Toni hilft ihm dennoch. Er streift etwas die Wand. Endlich hat sie mit zitternden Händen ihm den Überrock und dann auch den Rock abgestreift und beides an die Knagge3 neben der Korridortür gehängt. Selicke steht nun in Hemdärmeln da. Streicht sich über die Arme und schlägt sich dann, vor sich hinkichernd, mit der Faust auf seine breite, gewölbte Brust.) Ae! ... Ja? Siehste? ... Dein Vater is noch’n Kerl! ... (Lacht.) [...] 4. Analysieren Sie diese Textabschnitte nach inhaltlichen und formalen Gesichtspunkten: 55 60 65 70 1 Hütsche: Kinderschlitten 2 Reisige: berittene Soldaten 3 Knagge: Kantholz als Verstärkung 75 80 85 90 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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