222 auf dem Weihnachtsmarkt rumläuft! ... (Lacht und blinzelt Toni zu, die am Sofatisch in seiner Nähe steht.) ... n’ hübscher Baum – hbf! – hä? ... Holt man morgen früh gleich die – hb! – Hütsche1 vom Boden! – Da! Nimm ihn hin! – (Gibt Toni den Baum; tut scherzhaft, als ob er sie erschrecken wollte. Sie lächelt gezwungen und stellt den Baum beiseite. Er lacht, wendet sich dann zum Tische und fängt an, seine Taschen auszupacken; singt dabei: „Nicht Ross, nicht Reisige2 ...“ (sich unterbrechend:) Wo sind denn ... die Jungens? TONI: Sie schlafen schon! SELICKE: Wie – hb! – Wie spät is denn – eigentlich? TONI: Zwei. [...] 4. Analysieren Sie diese Textabschnitte nach inhaltlichen und formalen Gesichtspunkten: • Beschreiben Sie die Verhaltensweisen, die den Alkoholiker Selicke kennzeichnen. • Erlä utern Sie, woran die Menschen in diesem Dramenausschnitt leiden. • Erklären Sie, mit welchen sprachlichen Mitteln die beiden Autoren versuchen, die Wirklichkeit wiederzugeben. • Untersuchen Sie die Funktion der Regieanweisungen. • Stellen Sie dar, was sich alles im Vergleich zum klassischen Drama geä ndert hat. Die Figuren naturalistischer Dramen haben nicht viel Spielraum zum Handeln: Sie sind durch ihr Erbgut und das Milieu festgelegt, sie sind passive Heldinnen und Helden. Die Analyse ihres Charakters wird zur Hauptaufgabe des Dramas, das lediglich Geschehensabläufe darstellt, aber keine persönlichen dramatischen Konflikte. Die Entdeckung der Vererbungsgesetze und die Milieutheorie Taines haben dem idealistischen Traum vom freien Willen der sittlichen Persönlichkeit ein Ende bereitet. Der griechische Schicksalsgedanke war offenbar in Form von wissenschaftlichen Erkenntnissen ins Drama zurückgekehrt. Es ist meist eine trostlose, bedrückende Wirklichkeit, die uns im Naturalismus vor Augen geführt wird. Mit Vorliebe wird das Hässliche, Niederziehende dargestellt; Kranke, Geistesgestörte, Alkoholiker, Dirnen tragen häufig die Handlung. Das Milieu ist umso interessanter, je mehr es am Rande und außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft liegt. Das hat den naturalistischen Autorinnen und Autoren den Vorwurf eingetragen, Realität gerade nicht in ihrer ganzen Fülle, sondern mit offenkundiger Bevorzugung ihrer tristen Seiten wiederzugeben. Schon Theodor Fontane wandte gegen den Naturalismus ein: „Es ist die Muse in Sack und Asche, Apollo hat Zahnweh.“ Man fragte sich, wie objektiv die Wirklichkeit dargestellt werden könne und ob es sinnvoll sei, in einem literarischen Werk nichts als die Wirklichkeit in Ausschnitten abzubilden. Zum raschen Zerfall des naturalistischen Programms trug auch die sich bald aufdrängende Erkenntnis bei, dass die Dichtung aufhört, ein eigenständiges Medium zu sein, wenn sie sich zur Dienerin der Wissenschaft macht. Die noch im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einsetzende Umbildung des Naturalismus zum Impressionismus und aufkommende Gegenströmungen (Neuromantik, Symbolismus) konnten die – einmal gebahnte – naturalistische Seh- und Darstellungsweise aber nicht völlig verdrängen. Autoren wie Thomas Mann und Bertolt Brecht bezeugen in manchen Werken den fortwirkenden Einfluss des Naturalismus. 1 Hütsche: Kinderschlitten 2 Reisige: berittene Soldaten 55 Determination durch Erbgut und Milieu „Muse in Sack und Asche“ Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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