Killinger Literaturkunde, Schulbuch

GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 229 Was sich schon in den frühen Werken Hofmannsthals andeutet, nämlich trotz aller Sensibilität nur Bilder statt der Wirklichkeit zu sehen und den Sinn des Lebens weder deuten noch mitteilen zu können, führt um die Jahrhundertwende zu einer dichterischen Krise. In einem Aufsatz mit dem Titel Ein Brief (1902), oft auch Chandosbrief genannt, beschreibt Hofmannsthal diese Krise: Ein Brief (1902) Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte „Geist“, „Seele“ oder „Körper“ nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament, oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. [...] Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld1 mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muss: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt. 2. Erörtern Sie, wie Hofmannsthal in diesem Brief seine dichterische Krise ausdrückt: • Erläutern Sie die Probleme, die sich für den Verfasser des Briefs in Bezug auf die Darstellung der Wirklichkeit ergeben. • Analysieren Sie seine Ausdrucksweise. • Begründen Sie, warum er sie gewählt haben könnte. • Nehmen Sie aus Ihrer heutigen Sicht zu seinen Aussagen Stellung. Die Sprachkrise ist nicht nur für Hofmannsthal das Ende einer Entwicklung der ästhetischen Sprachform und der Wortmagie. Die Anfang des 20. Jahrhunderts auftretende Skepsis der Sprache gegenüber führt später in der Gegenwartsliteratur zu radikalen Veränderungen, vor allem in der Lyrik. Schon in einem Aufsatz aus dem Jahr 1895 spricht Hofmannsthal von dem „tiefen Ekel“ davor, dass sich „die Worte vor die Dinge gestellt haben“. Es heißt weiter: Die unendlich komplexen Lügen der Zeit, die dumpfen Lügen der Tradition, die Lügen der Ämter, die Lügen der einzelnen, die Lügen der Wissenschaft, alles das sitzt wie Myriaden2 tödlicher Fliegen auf unserem armen Leben. Sprachskepsis 5 10 1 Blachfeld: flaches Feld 2 Myriaden: sehr große Anzahl, ungezählte, unzählig große Menge 15 20 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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