GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 231 Arthur Schnitzler (1862 – 1931) Als Sohn eines bekannten Wiener Arztes übt Arthur Schnitzler selbst einige Jahre diesen Beruf aus und zieht sich dann ins Privatleben zurück, um sich ganz der Dichtung zu widmen. Schnitzler ist als Dramatiker und als Erzähler bedeutend. Kennzeichnend für sein Schaffen ist das Milieu, in dem seine Werke angesiedelt sind. Er ist stärker als die meisten seiner Zeitgenossen an die Atmosphäre seiner Heimatstadt gebunden. Seine Stücke spielen fast ohne Ausnahme im Wien der Jahre 1890 bis 1914. Die Figuren entstammen der höheren Gesellschaft. Reiche Privatiers, junge Offiziere und Studenten finden sich in Liebesbeziehungen zu feinen Damen verstrickt, die ein Abenteuer suchen, oder zu Künstlerinnen, Halbweltdamen und Mädchen aus ärmeren Schichten, die oft noch naiv und tief empfinden können. In Schnitzlers Bühnenwerken wie in seinen Erzählungen wird das als wesentlich Erkannte nicht lautstark hinausposaunt, sondern im Stil seiner Figuren bloß angedeutet. Schnitzler traut seinem Publikum bzw. seiner Leserschaft genug Reife zu, im Strom der inneren und äußeren Vorgänge das Eigentliche zu erfassen. Wie bei Hofmannsthal ist bei Schnitzler die Welt eine Bühne, auf der die Figuren eine Rolle spielen. Neu an der Dichtung Schnitzlers ist die psychologische Durchdringung der Charaktere. Schon bevor Freud seine Erkenntnisse über das Unbewusste veröffentlicht, beschäftigt sich Schnitzler als Arzt mit der Psyche des Menschen und mit der Hypnose. Was Freud wissenschaftlich untersucht und untermauert, den Zugang zum Unterbewusstsein und zur Welt der Triebe, findet der Dichter intuitiv. Freud spürt diese geistige Verwandtschaft und bringt sie in einem Brief an Schnitzler vom 14. Mai 1922 zum Ausdruck: Ich meine, ich habe Sie gemieden aus einer Art von Doppelgängerscheu. Nicht etwa, dass ich sonst so leicht geneigt wäre, mich mit einem anderen zu identifizieren oder dass ich mich über die Differenz der Begabung hinwegsetzen wollte, die mich von Ihnen trennt, sondern ich habe immer wieder, wenn ich mich in Ihre schönen Schöpfungen vertiefe, hinter deren poetischem Schein die nämlichen Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse zu finden geglaubt, die mir als die eigenen bekannt waren. Ihr Determinismus1 wie Ihre Skepsis2 – was die Leute Pessimismus heißen –, Ihr Ergriffensein von den Wahrheiten des Unbewussten, von der Triebnatur des Menschen, Ihre Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten, das Haften Ihrer Gedanken an der Polarität3 von Lieben und Sterben, das alles berührt mich mit einer unheimlichen Vertrautheit. (In einer kleinen Schrift vom Jahr 1920, „Jenseits des Lustprinzips“, habe ich versucht, den Eros4 und den Todestrieb als die Urkräfte aufzuzeigen, deren Gegenspiel alle Rätsel des Lebens beherrscht.) So habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition – eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe. Ja ich glaube, im Grunde Ihres Wesens sind Sie ein psychologischer Tiefenforscher, so ehrlich unparteiisch und unerschrocken, wie nur je einer war, Milieu in Schnitzlers Werken Bedeutung der Psychologie 5 1 Determinismus: Auffassung von der Vorbestimmtheit allen Geschehens 2 Skepsis: kritischer Zweifel, Bedenken, Misstrauen 3 Polarität: Gegensätzlichkeit bei wesenhafter Zusammengehörigkeit 4 Eros: in der griechischen Mythologie Gott der Liebe; sehnsuchtsvolles sinnliches Verlangen 10 15 Arthur Schnitzler als Einjährig-Freiwilliger, Fotografie um 1880. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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