Killinger Literaturkunde, Schulbuch

232 und wenn Sie das nicht wären, hätten Ihre künstlerischen Fähigkeiten, Ihre Sprachkunst und Gestaltungskraft, freies Spiel gehabt und Sie zu einem Dichter weit mehr nach dem Wunsch der Menge gemacht. Sexualität und Todesfurcht sowie deren Verdrängungen bilden die Grundthemen der Werke Arthur Schnitzlers. Der Tod wird bei Schnitzler nicht ästhetisiert, er ist schrecklich und unbegreiflich, die letzte und einzige Wahrheit im Theater des Lebens. Die Ambivalenz der menschlichen Existenz, die Ich-Versponnenheit, die keine echte Kommunikation zulässt (Narzissmotiv1), die Sprache als gesellschaftliche Form der Lüge sind weitere Grundthemen seiner Dichtung. Der Gleichklang in der Liebe und in der Freundschaft wird immer ersehnt, aber nie erreicht (z. B. im Anatol-Zyklus). Im Dialog, in den Worten, die gesprochen und die nicht gesprochen werden, entlarvt der Dichter die hinter allem stehende, oft nur mühsam überspielte Triebhaftigkeit und Banalität2 der Figuren. In der Leichtfertigkeit der Gesellschaft sieht Schnitzler die Keime der sich anbahnenden Katastrophe. Bei aller Schärfe der Kritik fehlt aber eine Verurteilung. Das Mitleid mit den handelnden Figuren, das Verstehen ihrer Handlungen steht immer im Vordergrund. In der Szene „Weihnachtseinkäufe“ des Anatol-Zyklus (Erstaufführung 1898) zeigt sich Schnitzler als Meister des Dialogs. Anatol trifft Gabriele zufällig in der Stadt. Er will ein Weihnachtsgeschenk kaufen, und sie erklärt sich bereit, ihn bei der Auswahl zu beraten. Anatol (1893) GABRIELE: (...) Für wen soll Ihr Geschenk gehören? ANATOL: ... Das ist ... eigentlich schwer zu sagen ... GABRIELE: Für eine Dame natürlich?! ANATOL: Na, ja – dass Sie eine Menschenkennerin sind, hab’ ich Ihnen heut schon ein mal gesagt! GABRIELE: Aber was ... für eine Dame? – Eine wirkliche Dame?! ANATOL: ... Da müssen wir uns erst über den Begriff einigen! Wenn Sie meinen, eine Dame der großen Welt – da stimmt es nicht vollkommen ... GABRIELE: Also ... der kleinen Welt? ... ANATOL: Gut – sagen wir der kleinen Welt. – GABRIELE: Das hätt’ ich mir eigentlich denken können ...! ANATOL: Nur nicht sarkastisch3 werden! GABRIELE: Ich kenne ja Ihren Geschmack ... Wird wohl wieder irgendwas von der Linie sein – dünn und blond! ANATOL: Blond – gebe ich zu ...! GABRIELE: ... Ja, ja ... blond ... es ist merkwürdig, dass Sie immer mit solchen Vorstadtdamen zu tun haben – aber immer! ANATOL: Gnädige Frau – meine Schuld ist es nicht. GABRIELE: Lassen Sie das – mein Herr! – Oh, es ist auch ganz gut, dass Sie bei Ihrem Genre4 bleiben ... es wäre ein großes Unglück, wenn Sie die Stätte Ihrer Triumphe verließen ... ANATOL: Aber was soll ich denn tun – man liebt mich nur da draußen ... GABRIELE: Versteht man Sie denn ... da draußen? Schnitzlers Themen 5 10 1 Narziss: auf sich selbst bezogener Mensch, der sich selbst bewundert und liebt 2 Banalität: Oberflächlichkeit 3 sarkastisch: mit beißendem, verletzendem Spott 4 Genre: Gattung, Art, besonders in der Kunst 15 20 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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