GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 233 ANATOL: Keine Idee! – Aber, sehen Sie ... in der kleinen Welt werd’ ich nur geliebt; in der großen – nur verstanden – Sie wissen ja (...) GABRIELE: Aber – Sie wissen ja – der spezielle Fall interessiert mich. Wir wollen ja dem speziellen Fall etwas kaufen! ANATOL: Dort in der ... „kleinen Welt“ gibt’s ja keine speziellen Fälle – eigentlich auch in der großen nicht ... Ihr seid ja alle so typisch! GABRIELE: Mein Herr! Nun fangen Sie an – ANATOL: Es ist ja nichts Beleidigendes – durchaus nicht! – Ich bin ja auch ein Typus! GABRIELE: Und was für einer denn? ANATOL: ... Leichtsinniger Melancholiker! GABRIELE: ... Und ... und ich? ANATOL: Sie? – ganz einfach: Mondaine1! GABRIELE: So ...! ... Und sie!? ANATOL: Sie ...? Sie ..., das süße Mädl! GABRIELE: Süß? Gleich „süß“? – Und ich – die „Mondaine“ schlechtweg – ANATOL: Böse Mondaine – wenn Sie durchaus wollen ... GABRIELE: Also ... erzählen Sie mir endlich von dem ... süßen Mädl! [...] GABRIELE: ... Ich möchte am liebsten dabei sein, wenn Sie ihr das Weihnachtsgeschenk bringen! ... Ich habe eine solche Lust bekommen, das kleine Zimmer und das süße Mädl zu sehen! – Die weiß ja gar nicht, wie gut sie’s hat! ANATOL: ...! GABRIELE: Nun aber, geben Sie mir die Päckchen! – Es wird so spät ... ANATOL: Ja, ja! Hier sind sie – aber ... GABRIELE: Bitte – winken Sie dem Wagen dort, der uns entgegenkommt ... ANATOL: Diese Eile, mit einem Mal?! GABRIELE: Bitte, bitte! Er winkt. GABRIELE: Ich danke Ihnen ...! Aber was machen wir nun mit dem Geschenk ...? Der Wagen hat gehalten; er und sie sind stehen geblieben, er will die Wagentüre öffnen. GABRIELE: Warten Sie! – ... Ich möchte ihr selbst was schicken! 3. Untersuchen Sie, wie in diesem Dialog eine floskelhafte Konversation personliche Zuge erhalt: • Charakterisieren Sie Anatol und begründen Sie Ihre Charakterisierung mit Verweisen auf seine Sprache. • Erlautern Sie, welche Aufschlusse der Dialog uber Gabriele gibt. • Analysieren Sie die Beziehung und Einstellung der beiden Figuren zueinander. • Benennen Sie typische Wendungen der gehobenen Konversation (Floskeln, Stehsätze, Leerformeln etc.). • Zeigen Sie auf, wo die zunachst floskelhafte Konversation in ein personliches Gesprach ubergeht. Die Fähigkeit des Dramatikers Schnitzler, Personen zu charakterisieren, wird auch in seinen Erzählungen und Novellen deutlich. Der Schauplatz und das Milieu sind – wie in den Dramen – Wien und die gehobene Gesellschaft. Die Figuren werden meist in eine außergewöhnliche Situation versetzt, die ihr Leben verändert oder sie mit dem Tod bedroht. Erotik, Ehrgeiz, Zwiespältigkeit, Altern und Tod erscheinen in verschiedenen Variationen. 25 30 35 40 45 50 1 Mondaine: Frau von Welt Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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