234 In seinen Novellen Leutnant Gustl (1900) und Fräulein Else (1924) bedient sich Schnitzler einer Technik, die dem Dramatiker ebenso entgegenkommt wie dem Psychoanalytiker, nämlich des inneren Monologs. Innerer Monolog Der innere Monolog gibt die Gedanken, Gefühle, Wünsche, Assoziationen der Figur in einer nicht voll ausgeformten Sprache wieder. Verlaufsstufe ist das Präsens, Vollzugsstufe das Perfekt. Die Autorin oder der Autor fängt gewissermaßen den Bewusstseinsstrom seiner Figur ein, in dem sich alles Geschehen spiegelt. Schnitzler gelingt es mit Hilfe des inneren Monologs, Menschen durch das Gespräch mit sich selbst zu charakterisieren, durch Erinnerungen und flüchtige Assoziationen die Triebfedern ihres Handelns und Denkens bloßzulegen. Der innere Monolog bietet die Möglichkeit, Reaktionen, Wahrnehmungen und Empfindungen der Figuren noch unreflektiert nebeneinanderzustellen und so die Leserin und den Leser Augenblicksregungen unmittelbar miterleben zu lassen. Die Lockerung der Syntax1 und die unverbundene Reihung von Aussagen geben dieser Form den besonderen Reiz. Leutnant Gustl, ein junger, menschlich unreifer Offizier, langweilt sich in einem Konzert. An der Garderobe kommt es zu einem Streit mit einem Bäckermeister, der ihn beleidigt, indem er ihn einen „dummen Buben“ nennt. Nach dem Ehrenkodex der Offiziere ist es nicht möglich, sich mit einem Handwerker zu duellieren und so seine Ehre wiederherzustellen. Gustl bleibt nur der Selbstmord. Er geht im Prater spazieren und überlegt, was er tun soll: Leutnant Gustl (1900) [...] – jetzt ist es ja doch alles eins ... Warum denn? – Ja, ich weiß schon: sterben muss ich, darum ist es alles eins – sterben muss ich ... Also wie? – Schau, Gustl, du bist doch extra da herunter in den Prater gegangen, mitten in der Nacht, wo dich keine Menschenseele stört – jetzt kannst du dir alles ruhig überlegen ... Das ist ja lauter Unsinn mit Amerika und quittieren2, und du bist ja viel zu dumm, um was anderes anzufangen – und wenn du hundert Jahr alt wirst, und du denkst dran, dass dir einer hat den Säbel zerbrechen wollen und dich einen dummen Buben geheißen, und du bist dag’standen und hast nichts tun können – nein, zu überlegen ist da gar nichts – die werden’s schon verschmerzen – man verschmerzt alles ... Wie hat die Mama gejammert, wie ihr Bruder gestorben ist – und nach vier Wochen hat sie kaum mehr dran gedacht ... auf den Friedhof ist sie hinausgefahren ... zuerst alle Wochen, dann alle Monat – und jetzt nur mehr am Todestag. – – Morgen ist mein Todestag – fünfter April – – Ob sie mich nach Graz überführen? Haha! da werden die Würmer in Graz eine Freud’ haben! – Aber das geht mich nichts an – darüber sollen sich die andern den Kopf zerbrechen ... Also, was geht mich denn eigentlich an? ... Ja, die hundertsechzig Gulden für den Ballert – das ist alles – weiter brauch ich keine Verfügungen zu treffen. – Briefe schreiben? Wozu denn? An wen denn? ... Abschied nehmen? – Ja, zum Teufel hinein, das ist doch deutlich genug, wenn man sich totschießt! – Dann merken’s die andern schon, dass man Abschied genommen hat ... Wenn die Leut’ wüssten, wie egal mir die ganze Geschichte ist, möchten sie mich gar nicht bedauern – ist eh’ nicht schad’ um mich ... Und was hab’ ich denn vom ganzen Leben gehabt? – Etwas hätt’ ich gerne noch mitgemacht: einen Krieg – 1 Syntax: Satzgrammatik 2 quittieren: den Militärdienst kündigen 5 10 15 20 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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