236 Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) In dem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rainer Maria Rilke heißt es: Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen. In den Dinggedichten ist für Rilke das Dichten nicht ein Bereden von Empfindungen, sondern das Umsetzen von Daseinsformen in Sprache: „Diesen Baum so auszudrücken, dass ich nur noch ihn sprechen ließe.“ Er möchte Dinge und Erscheinungen aus der Zufälligkeit der Wahrnehmung befreien und zu zeitloser Dauer gestalten. Dinge vergehen, aber das Kunst-Ding hat nach Rilke Anspruch auf Ewigkeit. In einem Brief aus dem Jahr 1903 schreibt er: Das Ding ist bestimmt, das Kunst-Ding muss noch bestimmter sein, von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben, ist es dauernd geworden, fähig zur Ewigkeit. Darin liegt das ganze Programm Rilkes: Sein „imaginativer Symbolismus“ möchte die Dinge aus ihrer alltäglichen Umklammerung lösen, die „Wesenheit“ ihrer Erscheinung im ästhetischen Gebilde begreiflich machen und sie so in die Allgemeingültigkeit heben. Worte bewirken, dass Dinge und Erscheinungen zeitlose Gültigkeit gewinnen. Das Karussell (1906) Jardin du Luxembourg1 Mit einem Dach und seinem Schatten dreht sich eine kleine Weile der Bestand von bunten Pferden, alle aus dem Land, das lange zögert, eh es untergeht. Zwar manche sind an Wagen angespannt, doch alle haben Mut in ihren Mienen; ein böser roter Löwe geht mit ihnen und dann und wann ein weißer Elefant. Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald, nur dass er einen Sattel trägt und drüber ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt. Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge und hält sich mit der kleinen heißen Hand, dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge. Und dann und wann ein weißer Elefant. Und auf den Pferden kommen sie vorüber, auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge schauen sie auf, irgendwohin, herüber – Und dann und wann ein weißer Elefant. Und das geht hin und eilt sich, dass es endet, und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel. Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet, ein kleines kaum begonnenes Profil – . Und manches Mal ein Lächeln, hergewendet, ein seliges, das blendet und verschwendet an dieses atemlose blinde Spiel ... Gedichte drücken die Wesenheit der Dinge aus 1 Jardin du Luxembourg: Park im Pariser Quartier Latin 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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