GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 239 Großer Einfluss auf die impressionistische Schreibweise des Wiener Kreises ist von dem Wiener Physiker und Erkenntnistheoretiker Ernst Mach (1838 – 1916) ausgegangen. 1885 definierte Mach die Körper als nur relativ beständige Komplexe von „Farben, Tönen und Drücken“. Auch dem menschlichen Ich wird nur eine relative Beständigkeit zuerkannt. Die Einheit der Persönlichkeit ist ein Komplex von Erinnerungen, Wahrnehmungen und Gefühlen, die sich ständig verändern. Mach hat besonders auf Hermann Bahr und Peter Altenberg (1859 – 1919) eingewirkt. Altenberg vertritt in seinen Werken die Ansicht, dass nichts endgültig existiere und nur die Veränderung und das Ungeordnete lebendig seien. Grundsätzlich ist zu fragen, wie weit Dichtung impressionistisch gestaltet werden kann. Die Sprache kann nicht im gleichen Maß wie die Farbe einen augenblicklichen Eindruck vermitteln; denn in der Sprache steckt viel Begrifflichkeit und Reflexion. Sprache ist vor allem dazu geeignet, Bedeutungen zu vermitteln. Sie kann keine Wahrnehmungen auslösen, sondern nur Vorstellungen. Es ist fast unmöglich, Farbschattierungen und Formen eines bestimmten Gegenstandes in Sprache exakt wiederzugeben. Daher kann eine Dichterin oder ein Dichter nur in kurzen Abschnitten oder Wendungen impressionistisch sein. Der Impressionismus ist nicht zu einer Literaturepoche im eigentlichen Sinn geworden; doch sind impressionistische Zuge in allen Gegenbewegungen zum Naturalismus zu finden. Umgekehrt finden sich bei vielen Autorinnen und Autoren dieser Zeit einzelne Werke, die Merkmale des Impressionismus erkennen lassen (u. a. bei Rainer Maria Rilke, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Else LaskerSchüler). Ein kennzeichnendes Stilmerkmal des Impressionismus ist die offene Haltung der Dichterin oder des Dichters. Das lyrische Ich nimmt die Eindrücke auf und gibt sie wieder, ohne dass sie einer auf irgendeine Absicht gerichteten Idee untergeordnet werden. Manchmal werden Wahrnehmungen und Empfindungen sogar in sprachlichen Bildern ohne syntaktische Verknüpfung aneinandergereiht. Ein bedeutender Vertreter des Impressionismus ist Detlev von Liliencron (1844 – 1909), dessen vielschichtige Werke neben Rainer Maria Rilke auch Hugo von Hofmannsthal beeinflusst haben. Im folgenden Gedicht beschreibt er die Eindrücke auf einem kleinen Bahnhof am Rande einer Großstadt. Detlev von Liliencron: Auf einem Bahnhofe (1890) Aus einer Riesenstadt verirrt‘ ich mich Auf einen weit entlegnen kleinen Bahnhof. Ein Städtchen wird vielleicht von hier erreicht Von Männern, die vom Morgen an viel Stunden Am Pult, in Läden und Kanzlei gesessen, Und nun den Abend im Familienkreise Den Staub abschütteln wollen vom „Geschäft“. Ein glühend heißer Sommertag schloß ab. Es war die Zeit der Mitteldämmerung. Der neue Mond schob wie ein Komma sich Just zwischen zwei bepackte Güterwagen. Im Westen lag der stumme Abendhimmel In ganz verblaßter milchiggelber Farbe. Und diesem Himmel stand wie ausgeschnitten Ein Haufen Schornsteintürme vor der Helle. 2 4 6 8 10 12 14 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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