242 ROMANE UM DIE WENDE VOM 19. ZUM 20. JAHRHUNDERT Der literarische Roman wandte sich vom Naturalismus ab und betonte wiederum subjektive Elemente und Sichtweisen. Allerdings hatte man durch den Naturalismus gelernt, auch negative Erscheinungen des menschlichen Daseins darzustellen und detailreich aufzuarbeiten. Die Autorinnen und Autoren dieser Romane lassen sich nur bedingt Strömungen zuordnen, zumal sie noch lange Jahre literarisch tätig waren. Neben Thomas Mann (1875 – 1955) sind sein Bruder Heinrich Mann (1871 – 1950) sowie Hermann Hesse (1877 – 1962) zu nennen. Thomas Mann (1875 – 1955) Die Werke des Lübeckers Thomas Mann sind kennzeichnend für diese Periode des deutschsprachigen Romans in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine ersten literarischen Werke stehen noch unter dem Einfluss des Impressionismus und des Jugendstils. Sie sind von kulturellem Pessimismus geprägt, allerdings ironisch gebrochen und stilistisch verfeinert. In dem Roman Buddenbrooks. Der Verfall einer Familie (1901) schildert er den Niedergang einer Lübecker Großkaufmannsfamilie über mehrere Generationen hinweg. In seiner Novelle Der Tod in Venedig (1912) lässt er die Hauptfigur, den Schriftsteller Gustav Aschenbach, nach Venedig reisen. Auf dieser Reise, von der er nicht mehr zurückkehren wird, begegnen ihm verschiedenste Gestalten, die ihn an den Tod erinnern (Charonsgestalten1) und die sein Schicksal vorwegnehmen. Der Tod in Venedig (1912) Einer, in hellgelbem übermodisch geschnittenem Sommeranzug, roter Krawatte und kühn aufgebogenem Panama2, tat sich krähender Stimme an Aufgeräumtheit vor allen andern hervor. Kaum aber hatte Aschenbach ihn ein wenig genauer ins Auge gefaßt, als er mit einer Art vo.n Entsetzen erkannte, daß der Jüngling falsch war. Er war alt, man konnte nicht zweifeln. Runzeln umgaben ihm Augen und Mund. Das matte Karmesin der Wangen war Schminke, das braune Haar unter dem farbig umwundenen Strohhut Perücke, sein Hals verfallen und sehnig, sein aufgesetztes Schnurrbärtchen und die Fliege am Kinn gefärbt, sein gelbes und vollzähliges Gebiß, das er lachend zeigte, ein billiger Ersatz, und seine Hände, mit Siegelringen an beiden Zeigefingern, waren die eines Greises. Schauerlich angemutet sah Aschenbach ihm und seiner Gemeinschaft mit den Freunden zu. 11. Untersuchen Sie, wie Thomas Mann Aschenbachs Begegnung mit einem ihm fremden Mann auf einem Boot darstellt: • Analysieren Sie zunächst, welche Aspekte diese Figur zu einer Charonsgestalt machen. • Erläutern Sie, warum Aschenbach auf diesen Anblick „schauerlich angemutet” reagiert. Schließlich verliebt sich Aschenbach in einen polnischen Jüngling, Tadzio, dem er durch die Stadt folgt und dessentwegen er auch in Venedig bleibt, als eine Seuche ausbricht, die ihn schließlich hinwegrafft. Kritik am Bürgertum 1 Charon: der Fährmann, der in der antiken Mythologie die Toten ins Totenreich übersetzt 2 Panama: Panama-Hut, Sonnenhut 5 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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