244 Hermann Hesse (1877 – 1962) Hermann Hesse lässt sich – ähnlich wie Thomas Mann – nicht leicht in den literarhistorischen Zusammenhang einordnen. Einerseits ist er durchaus traditionellen Erzählformen verhaftet, andererseits lehnt er die Einordnung in die Gesellschaft ab. In seinem Werk Unterm Rad (1906) schildert Hermann Hesse die Probleme eines begabten Jugendlichen namens Hans, der in einem Internat lebt, mit dem Leistungsdruck in seiner bürgerlichen Umgebung nicht zurande kommt und letztlich daran zerbricht. Unterm Rad (1906) Lucius sprang fliehend beiseite und gewann die Tür. Sein Verfolger setzte ihm nach, und es entstand ein hitziges und geräuschvolles Jagen durch Gänge und Säle, über Treppen und Flure bis in den fernsten Flügel des Klosters, wo in stiller Vornehmheit die Ephoruswohnung1 lag. Heilner erreichte den Flüchtling erst knapp vor der Studierzimmertür des Ephorus, und als jener schon angeklopft hatte und in der offenen Türe stand, erhielt er im letzten Augenblick noch den versprochenen Fußtritt und fuhr, ohne mehr die Tür hinter sich schließen zu können, wie eine Bombe ins Allerheiligste des Herrschers. Das war ein unerhörter Fall. Am nächsten Morgen hielt der Ephorus eine glänzende Rede über die Entartung der Jugend, Lucius hörte tiefsinnig und beifällig zu, und Heilner bekam eine schwere Karzerstrafe2 diktiert. »Seit mehreren Jahren«, donnerte der Ephorus ihn an, »ist eine solche Sache hier nicht mehr vorgekommen. Ich werde dafür sorgen, daß Sie noch in zehn Jahren daran denken sollen. Euch andern stelle ich diesen Heilner als abschreckendes Beispiel auf.« Die ganze Promotion schielte scheu zu ihm hinüber, der blaß und trotzig dastand und dem Blick des Ephorus nicht auswich. Im stillen bewunderten ihn viele, trotzdem blieb er am Ende der Lektion, als alles lärmend die Gänge erfüllte, allein und gemieden wie ein Aussätziger. Es gehörte Mut dazu, jetzt zu ihm zu stehen. Auch Hans Giebenrath tat es nicht. Es wäre seine Pflicht gewesen, das fühlte er wohl, und er litt am Gefühl seiner Feigheit. Unglücklich und schamhaft drückte er sich in ein Fenster und wagte nicht aufzublicken. Es trieb ihn, den Freund aufzusuchen, und er hätte viel darum gegeben, es unbemerkt tun zu können. Aber ein mit schwerem Karzer Bestrafter ist im Kloster für längere Zeit so gut wie gebrandmarkt. Man weiß, daß er von nun an besonders beobachtet wird und daß es gefährlich ist und einen schlechten Ruf einträgt, mit ihm Verkehr zu haben. Den Wohltaten, welche der Staat seinen Zöglingen erweist, muß eine scharfe, strenge Zucht entsprechen, das war schon in der großen Rede beim Eintrittsfeste vorgekommen. Auch Hans wußte das. Und er unterlag im Kampf zwischen Freundespflicht und Ehrgeiz. Sein Ideal war nun einmal, vorwärts zu kommen, berühmte Examina3 zu machen und eine Rolle zu spielen, aber keine romantische und gefährliche. So verharrte er ängstlich in seinem Winkel. Noch konnte er hervortreten und tapfer sein, aber von Augenblick zu Augenblick wurde es schwerer, und eh er sich’s versah, war sein Verrat zur Tat geworden. Heilner bemerkte es wohl. Der leidenschaftliche Knabe fühlte, wie man ihm auswich, und begriff es, aber auf Hans hatte er sich verlassen. Neben dem Weh und der Empörung, die Suche nach dem Platz in der Gesellschaft 5 10 1 Ephorus: Leiter eines evangelischen Seminars 2 Karzerstrafe: Arreststrafe in der Schule 3 Examina: Prüfungen 15 20 25 30 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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