Killinger Literaturkunde, Schülerband

GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 245 er jetzt empfand, kamen ihm seine bisherigen, inhaltlosen Jammergefühle leer und lächerlich vor. Einen Augenblick blieb er neben Giebenrath stehen. Er sah blaß und hochmütig aus und sagte leise: »Du bist ein gemeiner Feigling, Giebenrath – pfui Teufel!« Und damit ging er weg, halblaut pfeifend und die Hände in den Hosensäcken. 14. Charakterisieren Sie die Hauptfigur Hans: • Beschreiben Sie, in welchem Zwiespalt sich Hans befindet. • Stellen Sie gegenü ber, wie er sich verhalten sollte und wie er sich tatsächlich verhält. • Analysieren Sie sein Verhalten im Hinblick auf seinen Charakter. Weiterentwicklung des Romans Für die weitere Entwicklung des literarisch anspruchsvollen Romans wurden die Philosophie Bergsons und die Psychoanalyse Freuds bedeutungsvoll. Der Franzose Henri Bergson (1859 – 1941) entwickelte einen neuen Zeitbegriff: Wir finden in uns eine ganz andere Wirklichkeit als die von der Physik messbaren Erscheinungen in Raum und Zeit. Die innere Wirklichkeit ist in beständigem Fluss; sie ist nie, sondern wird immerfort, wobei das Vergangene andauernd durchschlägt. Der Mensch ist ein Prozess. Er ist auf das Künftige ausgerichtet und mit dem Gepäck seiner Vergangenheit belastet. Die modernen Romanschriftstellerinnen und Romanschriftsteller übernahmen den gelebten Zeitbegriff Bergsons: Nicht mehr Zeigermaß und Kalender ergeben die Struktur des Romans, sondern Zukünftiges, Gegenwärtiges und Vergangenes werden vermischt. Das Bewusstsein ist ein Kaleidoskop aus Gewesenem, Gegenwärtigem und Vorweggenommenem. In diesem Sinn zertrümmerte der Franzose Marcel Proust (1871 – 1922) in seinem Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit die chronologische Zeitfolge und machte die Vergangenheit durch assoziative Erinnerungen zur Gegenwart. Darüber hinaus waren Sigmund Freuds Theorien nach wie vor wirksam. Die Romanschriftstellerinnen und Romanschriftsteller schreiben in dem Bewusstsein, dass unser Bewusstseinsstrom und unsere Intentionen nicht nur von Eindrücken der Außenwelt, sondern auch vom eigenen Unbewussten gesteuert werden (vgl. S. 226). Der Ire James Joyce (1882 – 1941) bricht in seinem Hauptwerk Ulysses (ab 1918) gänzlich mit der überkommenen Form des erzählenden Romans: Er gestaltet ein umfassendes Bild des menschlichen Bewusstseins, indem er auf rund 1.000 Seiten 24 Stunden aus dem Leben eines Durchschnittsbürgers darstellt, wobei in jedem Kapitel die Perspektive und die Erzählweise wechseln. Joyce hat in seinem Roman nicht nur Bergsons neuen Zeitbegriff, sondern auch Freuds Lehre vom Unbewussten verarbeitet. Die englische Schriftstellerin Virginia Woolf (1882 – 1941), zunächst Literaturkritikerin und Essayistin, veröffentlichte 1922 mit Jakobs Zimmer einen ersten experimentellen Roman, in dem sie den inneren Monolog und die Bewusstseinsstromtechnik (vgl. S. 234) einsetzte. Mit Mrs Dalloway (1925) legte sie einen meisterhaft erzählten Roman vor, der vielfach mit Ulysses von James Joyce und Marcel Prousts (1871 – 1922) Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913 – 1927) verglichen wird. Ihr Werk war lange Zeit nur im englischen Sprachraum bekannt, erlangte aber ab den 1970er Jahren auch im deutschen Sprachraum zunehmend Aufmerksamkeit, u. a. von der Frauenbewegung. 35 Bewusstseinsstromtechnik Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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