Killinger Literaturkunde, Schülerband

248 Wir sind Expressionisten. Es kommt uns auf das Wollen, das Ethos an. Trotz der Unterschiede in den Anliegen, in der Gestaltung und in der Sprache expressionistischer Werke lassen sich Gemeinsamkeiten finden. Gemeinsam ist den Kunstschaffenden im Expressionismus das Erlebnis einer inneren Krise in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Ausgehend von Nietzsches Kulturkritik, verwerfen die jungen Dichterinnen und Dichter das positivistische, naturwissenschaftlich orientierte Weltbild. Der Protest gegen das selbstzufriedene, in alten Autoritätsstrukturen erstarrte Bürgertum, oft als Vater-Sohn-Konflikt dargestellt, findet sich fast überall. Die Krisenstimmung lässt den Menschen gefährdet, bedroht und haltlos erscheinen. Mit Leidenschaft und Pathos wird gegen den Fortschrittsglauben und das Spießbürgertum angekämpft. Georg Heym (1887 – 1912) notiert in seinem Tagebuch: Mein Gott – ich ersticke noch mit meinem brachliegenden Enthusiasmus in dieser banalen Zeit ... Ich hoffe jetzt wenigstens auf einen Krieg ..., ich aber, der Mann der Dinge, ich, ein zerrissenes Meer, ich, immer im Sturm, ich, der Spiegel des Außen, ebenso wild und chaotisch wie die Welt, ich, leider so geschaffen, dass ich ein ungeheures, begeistertes Publikum brauche, um glücklich zu sein, krank genug, um mir nie selbst genug zu sein, ich wäre mit einem Male gesund, ein Gott, erlöst, wenn ich irgendwo eine Sturmglocke hörte, wenn ich die Menschen herumrennen sähe mit angstzerfetzten Gesichtern ... 16. Nehmen Sie kritisch zu dieser Passage Stellung: • Erläutern Sie, was fü r Heym eine Bedrohung seiner Existenz ist. • Kommentieren Sie, was das Paradoxe daran ist. Ebenso wie der Aufschrei, das Pathos, das Ankämpfen gegen eine Zeit, die sie zutiefst ablehnen, ist den jungen Autorinnen und Autoren die Suche nach neuen Werten, die Sehnsucht nach einem neuen Menschen, einer großen Verbrüderung gemeinsam. Neues Engagement, die Forderung nach einer besseren Menschheit und die unbedingte Hingabe an ein Ideal sind typisch für den frühen Expressionismus. Bei allen diesen Bestrebungen steht das Ich im Mittelpunkt, und die Welt erscheint nur im Bezug zu diesem Ich-Bewusstsein interessant. Die Auseinandersetzung erfolgt mit dem eigenen Ich, nicht mit der objektiven Wirklichkeit. Die äußere Wirklichkeit ist höchstens auslösendes Moment für die visionäre Umgestaltung. Insofern ist der Expressionismus, die „Ausdruckskunst“, ein Gegenpol zum Impressionismus, der „Eindruckskunst“, die eine unreflektierte, objektive Bilderwelt schaffen will. Nach dem ersten Kriegsjahr (1915) setzt eine Ernüchterung ein. Eine Reihe von Expressionisten ist sehr jung gestorben oder gefallen. Zumeist wird der Krieg abgelehnt. Die Sehnsucht nach dem neuen, besseren Menschen wächst; das „O Mensch“-, „O Bruder“-Pathos steigert sich. Das große einheitliche Gefühl der ersten Jahre splittert sich auf. Man sucht in unterschiedlichen politischen Programmen die Verwirklichung seiner Träume: Pazifismus, Nationalismus, Faschismus, SoziVater-Sohn-Konflikt 5 Egon Schiele (1890 – 1918), Selbstbildnis mit Lampionfrüchten, 1912. Auseinandersetzung mit dem Ich Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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