Killinger Literaturkunde, Schulbuch

GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 249 Lyrik des Expressionismus Die Lyrik ist das vorherrschende Ausdrucksmittel der ersten Periode dieser Strömung. Sie übernimmt Elemente aus fast allen literarischen Strömungen der Vergangenheit und spielt alle Möglichkeiten der Form durch, vom strengen Strophenbau (Sonett) über ungegliederte Gebilde bis zu Ausrufen und Gestammel. In den Motiven, in den Bildern, Symbolen und Chiffren drückt sich die subjektive Weltsicht des Dichters aus. Daraus ergibt sich trotz ähnlicher Ausgangssituationen die Vielfalt und Gegensätzlichkeit der expressionistischen Werke. Die bedeutendsten Lyrikerinnen und Lyriker waren u. a. Gottfried Benn, Ernst Stadler, Georg Heym, Georg Trakl und Else Lasker-Schüler. Die französischen Symbolisten Charles Pierre Baudelaire (1821 – 1867) und Arthur Rimbaud (1854 – 1891) werden ebenso als Vorbilder anerkannt wie der Philosoph Friedrich Nietzsche mit seiner Forderung nach dem neuen Menschen, dem „Übermenschen“. Der Übermensch, der über der gängigen Moral steht und der rücksichtslos gegen andere, aber auch gegen sich selbst vorgeht, überwindet die Einschränkungen der Masse. Gottfried Benn (1886 – 1956) schreibt in der Einleitung zur Sammlung Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts: Denn was uns selbst angeht, unser Hintergrund war Nietzsche: Sein inneres Wesen mit Worten zu zerreißen, der Drang, sich auszudrücken, zu formulieren, zu blenden, zu funkeln auf jede Gefahr und ohne Rücksicht auf Ergebnisse, das Verlöschen des Inhalts zugunsten der Expression – das war ja seine Existenz. Typisch expressionistische Gestaltungsmerkmale finden sich im folgenden Gedicht von Georg Heym: Georg Heym: Der Hunger (1911) Er fuhr in einen Hund, dem groß er sperrt Das rote Maul. Die blaue Zunge wirft Sich lang heraus. Er wälzt im Staub. Er schlürft Verwelktes Gras, das er dem Sand entzerrt. Sein leerer Schlund ist wie ein großes Tor, Drin Feuer sickert, langsam, tropfenweis, Das ihm den Bauch verbrennt. Dann wäscht mit Eis Ihm eine Hand das heiße Speiserohr. Er wankt durch Dampf. Die Sonne ist ein Fleck, Ein rotes Ofentor. Ein grüner Halbmond führt Vor seinen Augen Tänze. Er ist weg. Ein schwarzes Loch gähnt, draus die Kälte stiert. Er fällt hinab, und fühlt noch, wie der Schreck Mit Eisenfäusten seine Gurgel schnürt. Der neue Mensch 2 4 6 8 10 12 14 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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