GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 249 alismus, Kommunismus. Der „ideale Aktivismus“ der Anfangsphase wird von Parteien aufgesogen. Trotz aller politischen Aktivismen hat der Expressionismus eine revolutionäre Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht ernsthaft versucht. Bald nach dem Ende des Ersten Weltkriegs geht der expressive Schwung endgültig verloren. Die großen Ziele, nämlich eine neue geistige Welt, die Erneuerung des Menschen und eine neue Sinngebung des Daseins in brüderlicher Menschenwürde, können vor der Wirklichkeit nicht bestehen, geschweige denn sie ändern. Der „permanente Schrei“ kann nicht durchgehalten werden. Die Hauptmotive expressionistischer Dichtung sind nicht grundsätzlich neu, doch werden sie neu gesehen und gestaltet. Im Mittelpunkt steht der vereinsamte, leidende Mensch in seiner Ausgestoßenheit und Angst. Gedichte über Wahnsinnige, Selbstmörderinnen und Selbstmörder und Gefangene sind häufig. Der Tod, verbunden mit dem Grauen, wird zum Thema. Die „Morgue“, das Leichenschauhaus für Selbstmörderinnen und Selbstmörder und unbekannte Tote, inspirierte v. a. die künstlerische Jugend. Die Untergangsstimmung hängt mit dem Motiv des Todes zusammen; Abend, Dämmerung, Herbst, Winter (vielfach Todessymbole) prägen viele Gedichte. Hier reiht sich auch die Stadt als Ort der Bedrohung, der Sünde, des Todes oder der Dämonen und des rasenden sinnlosen Lebens ein. Die Dichtung des Expressionismus kennt nur innerlich geschaute Wahrheiten. Die oft übersteigerten, dynamischen Bilder lösen sich von der Wirklichkeit und der überkommenen Ästhetik. Jede expressive Dichtung muss als visionäre Schau verstanden werden. Um das subjektive Weltbild ausdrücken zu können, verwenden Dichter und Dichterinnen Symbole und Chiffren. Ein Musterbeispiel ist die Wiedergabe der Farben. Sowohl in der Malerei als auch in der Dichtung werden Farben zu Symbolen. Die Farbe wird von der optischen Erfahrung losgelöst und zum reinen Vokabel des Gefühlsausdrucks. (Vgl. S. 235) Nachhallen die purpurnen Flüche Des Hungers in faulendem Dunkel, […] Georg Trakl, Vorhölle Jener aber ging die steinernen Stufen des Mönchsbergs hinab, Ein blaues Lächeln im Antlitz und seltsam verpuppt In seine stillere Kindheit und starb; […] Georg Trakl, An einen Frühverstorbenen Eine wesentliche Rolle in der Gestaltung des visionären Expressionismus spielt die Metaphorik, das sprachliche Bild. Es werden die Mittel der Allegorie und der Personifikation verwendet: Ideen und Phantasien werden als Figuren, als lebendige, oft dämonische Wesen dargestellt. Auch leblose Dinge werden aktiv und lebendig und tragen zur Verfremdung des Dargestellten bei. Die Sprache des Expressionismus lebt vor allem in der Bildhaftigkeit und heftigen Bewegung, die durch ausdrucksvolle Verben erzielt wird: Und manchmal wird ein Mensch vorbeigefegt, Den hinten groß sein schwarzer Schatten schlägt. Georg Heym, Die Nacht Die Flöte rülpst tief drei Takte lang [...] [...] Die Tür fließt hin [...] Gottfried Benn, Nachtcafé Der leidende Mensch Symbole und Chiffren 2 2 Allegorie und Personifikation Bildhafte Sprache 2 2 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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