Killinger Literaturkunde, Schulbuch

254 Georg Heym: Das Schiff (1911) Hinter dem Mastbaum stand etwas. Ein schwarzer Schatten. Jetzt kam es mit seinem schlürfenden Schritte über Deck. Jetzt stand es hinter dem Kajütendache1, jetzt kam es hervor. Eine alte Frau in einem altmodischen Kleid, lange weiße Locken fielen ihr zu beiden Seiten in das blasse Gesicht. Darin steckten ein Paar Augen von unbestimmter Farbe wie ein Paar Knöpfe, die ihn unverwandt ansahen [...] Er wollte zurück, da war die Pest schon am anderen Ende der Rahe2. Und nun kam sie freischwebend auf dem Holze heran wie ein alter Matrose mit wiegendem Gang. Nun waren es nur noch sechs Schritte, nur noch fünf. Er zählte leise mit, während die Todesangst in einem gewaltigen Krampf seine Kinnbacken auseinander riss, als wenn er gähnte. Drei Schritte, zwei Schritte. Er wich zurück, griff mit den Händen in die Luft, wollte sich irgendwo festhalten, überschlug sich und stürzte krachend auf das Deck, mit dem Kopf zuerst auf eine eiserne Planke. Und da blieb er liegen, mit zerschmettertem Schädel. Ein schwarzer Sturm zog schnell im Osten über dem Stillen Ozean auf. Die Sonne verbarg sich in den dicken Wolken, wie ein Sterbender, der ein Tuch über sein Gesicht zieht. Ein paar große chinesische Dschunken3, die aus dem Halbdunkel herauskamen, hatten alle Segel gesetzt und fuhren rauschend vor dem Sturme einher mit brennenden Götterlampen und Pfeifengetön. Aber an ihnen vorbei fuhr das Schiff riesengroß wie der fliegende Schatten eines Dämons. Auf dem Deck stand eine schwarze Gestalt. Und in dem Feuerschein schien sie zu wachsen, und ihr Haupt erhob sich langsam über die Masten, während sie ihre gewaltigen Arme im Kreise herumschwang gleich einem Kranich gegen den Wind. Ein fahles Loch tat sich auf in den Wolken. Und das Schiff fuhr geradewegs hinein in die schreckliche Helle. 22. Analysieren Sie diesen Textabschnitt als Beispiel für expressionistische Epik nach den folgenden Gesichtspunkten: • Stellen Sie dar, wie die Pest veranschaulicht wird. • Erklären Sie, mit welchen Stilmitteln die ubersteigerte Dynamik erreicht wird. • Erläutern Sie, welche Wirkung der letzte Satz, das Ende der Erzählung, erzielt. 23. Vergleichen Sie diesen Abschnitt mit den Ausschnitten aus realistischen Novellen von Gottfried Keller (vgl. S. 206 ff.) hinsichtlich der sprachlichen und stilistischen Unterschiede. Franz Kafka (1883 – 1924) Franz Kafka stammte aus einer jüdisch-deutschen Familie in Prag. Er stand den Ideen und der Thematik des Expressionismus nahe, gehörte jedoch keiner Gruppierung an. Franz Kafka litt zeit seines Lebens unter seinem sehr dominanten Vater. Dieser Umstand erklärt auch, warum er in vielen seiner Werke Personen beschreibt, die unter einer ungreifbaren, alles beherrschenden Autorität leiden. Das gespannte Verhältnis zu seinem Vater hat er in seinem Text Brief an den Vater (1919) thematisiert. Kafka veröffentlichte zu Lebzeiten lediglich wenige Werke. Eines davon war der Text Eine kaiserliche Botschaft. Er ist, wie viele kurze Erzählungen Kafkas, eine Parabel, eine Art Gleichnis. 5 10 15 20 1 Kajüte: Wohn- und Schlafraum auf Schiffen 2 Rahe: waagrechte Stange am Mast eines Segelschiffes 3 Dschunke: chinesisches Segelschiff mit flachem Schiffsrumpf Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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