GEGENSTRÖMUNGEN ZUM NATURALISMUS | 1890 – 1925 255 Eine kaiserliche Botschaft (1917) Der Kaiser – so heißt es – hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, dass er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes – alle hindernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs – vor allen diesen hat er den Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht, ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend, schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest Du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müsste er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor – aber niemals, niemals kann das geschehen – liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt. Die Parabel Die Parabel ist ihrem Wesen nach eine erzählende Kleinform. Sie kann aber auch in einem Drama auftreten (vgl. Lessings Ringparabel im Nathan, S. 88) und ebenso als „Gedankenlyrik“ (z. B. Goethes Gedichtzyklus Westöstlicher Divan). Mitunter können sogar ein Roman (Kafka, Der Prozess) oder ein Drama (Frisch, Biedermann und die Brandstifter) als Parabel zu verstehen sein. Gleichnisse werden häufig im Neuen Testament verwendet, um Weisheiten deutlich zu machen. Jede Parabel hat zwei Ebenen, eine Erzählebene und eine Erkenntnisebene. Der Hauptgedanke wird in Form einer Geschichte ausgedrückt, die Botschaft ist jedoch eine philosophische. 24. Deuten Sie diese Parabel von Franz Kafka: • Halten Sie das außere Geschehen (= die Fabel) so kurz wie moglich schriftlich fest (Prasens). • Erschließen Sie die Gegensatze, die den ersten Satz beherrschen. • Beschreiben Sie, wo für Sie die Zweifel am Erfolg der Sendung des Boten beginnen. • Analysieren Sie, wie die unendlich weite Entfernung zwischen dem Kaiser und dem Du ausgedruckt wird. • Erläutern Sie die Wirkung, die durch den Einsatz des Konjunktivs erzielt wird. • Interpretieren Sie den Gehalt der Parabel von Franz Kafka. 5 10 15 20 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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