Killinger Literaturkunde, Schulbuch

256 In den Jahren 1914/15 schrieb Kafka seinen Roman Der Prozess, er wurde aber erst 1925, kurz nach dem Tod des Autors, von seinem Freund Max Brod (1884 – 1968) veröffentlicht, der sich damit dem Wunsch Kafkas widersetzte, seine Werke nach seinem Tod zu vernichten. Der Roman beginnt mit einem Satz, der die Grundthematik des Textes vorwegnimmt. Der Prozess (1914/1915) Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen. K. wartete noch ein Weilchen, sah von seinem Kopfkissen aus die alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber, gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. Sofort klopfte es und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte, trat ein. Er war schlank und doch fest gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das, ähnlich den Reiseanzügen, mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne dass man sich darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien. „Wer sind Sie?“, fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann aber ging über die Frage hinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen, und sagte bloß seinerseits: „Sie haben geläutet?“ „Anna soll mir das Frühstück bringen“, sagte K. und versuchte, zunächst stillschweigend, durch Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer der Mann eigentlich war. Aber dieser setzte sich nicht allzu lange seinen Blicken aus, sondern wandte sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um jemandem, der offenbar hinter der Tür stand, zu sagen: „Er will, dass Anna ihm das Frühstück bringt.“ Ein kleines Gelächter im Nebenzimmer folgte, es war nach dem Klang nicht sicher, ob nicht mehrere Personen daran beteiligt waren. Personales Erzählverhalten Das Geschehen wird aus der Sicht der Reflektorfigur, also einer Figur der fiktiven Handlung, dargestellt. Wir begegnen einer Romanfigur, die denkt, fühlt, wahrnimmt, urteilt, aber nicht wie eine Erzählerfigur zur Leserin bzw. zum Leser spricht. Dieses Erzählverhalten findet sich in vielen Romanen der Gegenwartsliteratur. Der Autor bzw. die Autorin verzichtet auf eine Erzählerfigur mit erhöhtem Standort und Allwissenheit; er bzw. sie tauscht aber dafür größere Nähe zur Hauptfigur und psychologische Glaubwürdigkeit ein. Die Welt wird pluralistisch, sie ist letztlich ein Entwurf des Individuums. Die radikalste Form des personalen Erzählverhaltens stellt der innere Monolog dar. 25. Untersuchen Sie die Erzahlperspektive des Textausschnittes: • Vergleichen Sie, was Sie wissen und was Josef K. weiß. • Erlautern Sie, aus welcher Sicht das Geschehen dargestellt wird. 26. Verfassen Sie einen inneren Monolog, der wiedergibt, was K. denkt und wie er sich fuhlt. Josef K. wird von dem Fremden und einem zweiten Mann ins Gefängnis gebracht, ohne dass er weiß, warum. Sein Prozess wird verschleppt, er wird überhaupt nie vor einen Richter geführt. Am Schluss des Romans bringen zwei Herren K. vor die Stadt. 5 10 15 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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