Killinger Literaturkunde, Schulbuch

259 Die Zeit war geprägt von den Veränderungen in der politischen Landschaft Europas und den gesellschaftlichen Veränderungen durch die Neuordnung nach dem Krieg. Die neu gegründeten Republiken in Deutschland und Österreich, die Reparationszahlungen nach dem Ersten Weltkrieg und die daraus folgenden wirtschaftlichen Probleme waren bestimmend. Inflation, materielle Not in großem Ausmaß und die Wirtschaftskrise 1929 wurden als Bedrohungen erlebt, die viele nur durch den Aufbau autoritärer Strukturen unter Ausschaltung der Demokratie lösen zu können glaubten. Die politische Radikalisierung hatte aber auch ihre Wurzeln im Nationalismus, den harten Friedensverträgen und der mangelnden demokratischen Erfahrung. Während in Deutschland der Nationalsozialismus immer weitere Kreise zog und ab 1933 dominierte, war es in Österreich zunächst der autoritäre Ständestaat, der 1938 durch den Anschluss an Deutschland abgelöst wurde. Auch in anderen europäischen Staaten gewannen autoritäre Strömungen die Oberhand (z. B. Faschismus in Italien, Horthy in Ungarn). In Spanien führte diese Entwicklung zum Bürgerkrieg, der mit dem Sieg der Anhänger General Francos 1939 endete. Charakteristisch für diese Zeit waren Massenphänomene, die bei Demonstrationen und politischen Veranstaltungen zum Tragen kamen. Der spätere Literaturnobelpreisträger Elias Canetti (1905 – 1994) analysierte diese Phänomene in seinem Werk Masse und Macht (begonnen 1925, erschienen 1960). In seiner Lebensgeschichte Die Fackel im Ohr (1982) beschreibt er eines dieser Ereignisse, bei denen der Einzelne in der Masse aufgeht und seine Selbstbestimmtheit verliert. Elias Canetti: Die Fackel im Ohr (1982) Wenige Monate, nachdem ich in das neue Zimmer eingezogen war, geschah etwas, das auf mein späteres Leben den tiefsten Einfluß hatte. Es war eines von jenen nicht zu häufigen öffentlichen Ereignissen, die eine ganze Stadt so sehr ergreifen, daß sie danach nie mehr dieselbe ist. Am Morgen des 15. Juli 1927 war ich nicht wie sonst immer im Chemischen Institut in der Währingerstraße, sondern fand mich zu Hause. Ich las im Kaffeehaus in Ober-St. Veit die Morgenzeitung. Ich spüre noch die Empörung, die mich überkam, als ich die „Reichspost“ in die Hand nahm; da stand als riesige Überschrift: „Ein gerechtes Urteil“. Im Burgenland war geschossen, Arbeiter waren getötet worden. Das Gericht hatte die Mörder freigesprochen. Dieser Freispruch wurde im Organ der Regierungspartei als „gerechtes Urteil“ bezeichnet, nein ausposaunt. Es war dieser Hohn auf jedes Gefühl von Gerechtigkeit noch mehr als der Freispruch selbst, was eine ungeheure Erregung in der Wiener Arbeiterschaft auslöste. Aus allen Bezirken Wiens zogen die Arbeiter in geschlossenen Zügen vor den Justizpalast, der durch seinen bloßen Namen das Unrecht für sie verkörperte. Es war eine völlig spontane Reaktion, wie sehr, spürte ich an mir selbst. Auf meinem Fahrrad fuhr ich schleunigst in die Stadt hinein und schloß mich einem dieser Züge an. Die Arbeiterschaft, die sonst gut diszipliniert war, die Vertrauen zu ihren sozialdemokratischen Führern Neuordnung des Kontinents 5 10 15 VOM ERSTEN ZUM ZWEITEN WELTKRIEG 1920 BIS 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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