Killinger Literaturkunde, Schulbuch

260 hatte und es zufrieden war, daß die Gemeinde Wien von ihnen in vorbildlicher Weise verwaltet wurde, handelte an diesem Tage ohne ihre Führer. Als sie den Justizpalast anzündete, stellte sich ihnen der Bürgermeister Seitz auf einem Löschwagen der Feuerwehr mit hocherhobener Rechten in den Weg. Seine Geste blieb wirkungslos: der Justizpalast brannte. Die Polizei erhielt Schießbefehl, es gab neunzig Tote. Es sind 53 Jahre her, und die Erregung dieses Tages liegt mir heute noch in den Knochen. Es ist das Nächste zu einer Revolution, was ich am eigenen Leib erlebt habe. Seither weiß ich ganz genau, ich müßte kein Wort darüber lesen, wie es beim Sturm auf die Bastille zu ging. Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm. 1. Recherchieren Sie die Hintergründe des Justizpalastbrandes 1927 im Internet bzw. in historischen Nachschlagwerken. 2. Kommentieren Sie, wie Canetti hier die Geschehnisse aus seiner persönlichen Erfahrung schildert: • Beschreiben Sie, welches Massenphänomen dargestellt wird. • Erläutern Sie, welche Aspekte ihm besonders in Erinnerung geblieben sind. • Nehmen Sie Stellung, an welchen Stellen die persönliche Sicht des Autors erkennbar wird. In künstlerischer Hinsicht hatte der Expressionismus seine Kraft verloren und wurde von einer neuen Zuwendung zu einer sachlichen, schonungslosen Darstellungsweise abgelöst. Der Stil war reportagehaft nüchtern, das Ziel war die Dokumentation des Geschehens, daher der Begriff Neue Sachlichkeit. Die Erfahrung des Großstadtlebens ging als prägend in die Werke dieser Zeit ein. Der nach dem Ersten Weltkrieg vorherrschende Pessimismus wich nur langsam. Die Lage vieler Autorinnen und Autoren wurde zunehmend untragbarer, Schriftstellerinnen und Schriftsteller wurden ob ihrer jüdischen Herkunft und/oder ihrer politischen Anschauungen verfolgt, die Publikation ihrer Werke behindert, ihre Bücher verbrannt. Für viele endete diese Entwicklung mit dem Gang ins Exil oder in die Vernichtungslager. EPISCHES THEATER Das epische Theater steht dem traditionellen aristotelischen Theater gegenüber und wirkt durch einen gänzlich anderen inhaltlichen Ansatz und eine andere Form. Vgl. das Kapitel „Einfluss des griechischen Dramas auf die deutsche Literatur“ S. 47. Die klassische Tragödie hat eine geschlossene Form: Sie zeigt einen strengen Aufbau, beachtet die Einheit von Handlung, Zeit und Ort, ist auf die Reinheit der Gattung bedacht und bietet eine Welt für sich. Das epische Drama hat (ähnlich wie die Dramen Shakespeares und des Sturm und Drang) eine offene Form: Jede Szene stellt ein Bild für sich dar, die Schauplätze wechseln, die Handlung weist Zeitsprünge auf, das Ende bleibt häufig offen, denn die Zuschauerinnen und Zuschauer sollen weiterdenken und für sich die Folgerungen ziehen. Laut Brecht verlaufen Katastrophen „nicht geradlinig, sondern in der Form von Krisenzyklen, die ‚Helden’ wechseln mit den einzelnen Phasen, sind auswechselbar.“ (Brecht, 1929) Während das aristotelische Theater versucht, in der Tragödie durch Furcht und Mitleid eine Haltungsänderung beim Publikum zu erreichen (Identifikation mit der Hauptfigur), möchte das epische Theater durch den bewussten Bruch mit den gängigen Theatertraditionen zu politischem Handeln animieren. 20 25 Begriff: Neue Sachlichkeit Zum Aufbau des aristotelischen und des epischen Dramas Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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