Killinger Literaturkunde, Schulbuch

VOM ERSTEN ZUM ZWEITEN WELTKRIEG | 1920 – 1945 261 Bertolt Brecht (1898 – 1956) Der Augsburger Bertolt Brecht nannte seine Dramatik „episches Theater“, weil sich das Drama wie ein Roman über Räume und Zeiten erstreckt und Einblick in ein vielschichtiges Geschehen gibt. Er war besonders an der Wechselwirkung zwischen den Schauspielerinnen und Schauspielern und dem Publikum interessiert und äußerte sich kritisch zum traditionellen Drama: Theater ohne Kontakt mit dem Publikum sei Nonsens. Das epische Theater Brechts orientiert sich an einem anderen Publikum. Es muss „jene faszinierende Realität bekommen, [die] der Sportpalast hat, in dem geboxt wird.“ Brecht ist der Auffassung, dass die Welt veränderbar sei, und dass Verhältnisse geschaffen werden könnten, in denen es möglich ist, gut zu sein und dennoch gut zu leben. Brechts Theater wird zu einer „paradigmatischen Anstalt“1, die einen „Fall“ vorbringt und damit nach Brechts Worten einen „vergnüglichen Lernprozess“ einleitet. Erlernt werden sollen die Einsicht in die gesellschaftlichen Zusammenhänge und die Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderungen im Sinn des Marxismus. In den Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1930) stellt Brecht Merkmale des epischen Theaters solchen des aristotelischen Theaters gegenüber. Dramatische Form des Theaters Epische Form des Theaters Die Bühne »verkörpert« einen Vorgang sie erzählt ihn verwickelt den Zuschauer in eine Aktion und macht ihn zum Betrachter, aber verbraucht seine Aktivität weckt seine Aktivität ermöglicht ihm Gefühle erzwingt von ihm Entscheidungen vermittelt ihm Erlebnisse vermittelt ihm Kenntnisse der Zuschauer wird in eine Handlung hineinversetzt er wird ihr gegenübergesetzt es wird mit Suggestion gearbeitet es wird mit Argumenten gearbeitet die Empfindungen werden konserviert bis zu Erkenntnissen getrieben der Mensch wird als bekannt vorausgesetzt der Mensch ist Gegenstand der Untersuchung der unveränderliche Mensch der veränderliche und verändernde Mensch Spannung auf den Ausgang Spannung auf den Gang eine Szene für die andere jede Szene für sich die Geschehnisse verlaufen linear in Kurven natura non facit saltus2 facit saltus3 die Welt, wie sie ist die Welt, wie sie wird was der Mensch soll was der Mensch muß seine Triebe seine Beweggründe das Denken bestimmt das Sein das gesellschaftliche Sein bestimmt das Denken Die Zuschauerinnen und Zuschauer im traditionellen Theater sind in der Regel auf passives und unkritisches Hinnehmen des Dargebotenen, auf Unterhaltung eingestellt. Brecht versucht deswegen, die Theaterbesucherinnen und -besucher durch seine Technik der Verfremdung des Vertrauten zu überraschen und aufzuschrecken. Der Verfremdungseffekt besteht darin, dass Selbstverständliches Einbeziehung des Publikums 1 Paradigma: Beispiel, Muster 2 natura non facit saltus: Die Natur macht keine Sprünge. 3 facit saltus: [das epische Theater] macht Sprünge Identifikation vs. Verfremdung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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