Killinger Literaturkunde, Schulbuch

VOM ERSTEN ZUM ZWEITEN WELTKRIEG | 1920 – 1945 269 Oskar drückt ihr die Kehle zu. Marianne röchelt und lässt die Zither fallen. Stille. DIE GROSSMUTTER hebt die Zither auf, leise: Du Luder. Du Bestie. Du Zuchthäuslerin1. – Mich? Mich möchtest du erschlagen, mich? DIE MUTTER schreit die Großmutter plötzlich an: Jetzt schau aber, dass du ins Haus kommst! Marsch! Marsch! DIE GROSSMUTTER geht langsam auf die Mutter zu: Dir tät es ja schon lange passen, wenn ich schon unter der Erden wär – nicht? Aber ich geh halt noch nicht, ich geh noch nicht – Da! Sie gibt der Mutter eine Ohrfeige. Verfaulen sollt ihr alle, die ihr mir den Tod wünscht! Ab mit ihrer Zither in das Häuschen. Stille. DIE MUTTER schluchzt: Na, das sollst du mir büßen – ihr nach. ZAUBERKÖNIG nimmt langsam die Hand vom Gesicht: Der zweite Schlaganfall, der zweite Schlaganfall – nein, nein, nein, lieber Gott, lass mich noch da, lieber Gott – Er bekreuzigt sich. Vater unser, der du bist im Himmel – groß bist du und gerecht – nicht wahr, du bist gerecht? Lass mich noch, lass mich noch – Oh, du bist gerecht, oh du bist gerecht! Er richtet sich seine Krawatte und geht langsam ab. VALERIE zu Alfred: Wie groß war er denn schon, der kleine Leopold? ALFRED: So groß – VALERIE: Meine innigste Kondolation2. ALFRED: Danke. […] VALERIE: Wir werden ihm einen schönen Grabstein setzen. Vielleicht ein betendes Englein. ALFRED: Ich bin sehr traurig. Wirklich. Ich hab jetzt grad so gedacht – so ohne Kinder hört man eigentlich auf. Man setzt sich nicht fort und stirbt aus. Schad! Langsam ab mit Valerie. MARIANNE: Ich hab mal Gott gefragt, was er mit mir vorhat. – Er hat es mir aber nicht gesagt, sonst wär ich nämlich nicht mehr da. – Er hat überhaupt nichts gesagt. – Er hat mich überraschen wollen. – Pfui! OSKAR: Marianne! Hadere nie mit Gott! MARIANNE: Pfui! Pfui! Sie spuckt aus. Stille. OSKAR: Mariann. Gott weiß, was er tut, glaub mir das. MARIANNE: Kind, wo bist du denn jetzt? Wo? OSKAR: Im Paradies. MARIANNE: So quält mich doch nicht – OSKAR: Ich bin doch kein Sadist! Ich möcht dich doch nur trösten. – Dein Leben liegt doch noch vor dir. Du stehst doch erst am Anfang. – Gott gibt und Gott nimmt. MARIANNE: Mir hat er genommen, nur genommen – OSKAR: Gott ist die Liebe, Mariann – und wen er liebt, den schlägt er – MARIANNE: Mich prügelt er wie einen Hund! OSKAR: Auch das! Wenn es nämlich sein muss. Nun spielt die Großmutter auf ihrer Zither drinnen im Häuschen die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ von Johann Strauß. Mariann. Ich hab dir mal gesagt, dass ich es dir nie wünsch, dass du das durchmachen sollst, was du mir angetan hast – und trotzdem hat dir Gott Menschen gelassen – die dich trotzdem lieben – und jetzt, nachdem sich alles so eingerenkt hat. – Ich hab dir mal ge65 70 75 80 85 90 95 100 105 1 Zuchthäuslerin: Strafgefangene 2 Kondolation: Beileidsbekundung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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