VOM ERSTEN ZUM ZWEITEN WELTKRIEG | 1920 – 1945 271 Zahnarzt sitzt, der eine Wurzel mit der Zange gepackt hat und zieht, der Schmerz wächst, der Kopf will platzen. Er drehte den Kopf zurück nach der roten Mauer, aber die Elektrische sauste mit ihm auf den Schienen weg, dann stand nur noch sein Kopf in der Richtung des Gefängnisses. Der Wagen machte eine Biegung, Bäume, Häuser traten dazwischen. Lebhafte Straßen tauchten auf, die Seestraße, Leute stiegen ein und aus. In ihm schrie es entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los. Seine Nasenspitze vereiste, über seine Backe schwirrte es. »Zwölf Uhr Mittagszeitung«, »B. Z.«, »Die neuste Illustrirte«, »Die Funkstunde neu« »Noch jemand zugestiegen?« Die Schupos1 haben jetzt blaue Uniformen. Er stieg unbeachtet wieder aus dem Wagen, war unter Menschen. Was war denn? Nichts. Haltung, ausgehungertes Schwein, reiß dich zusammen, kriegst meine Faust zu riechen. Gewimmel, welch Gewimmel. Wie sich das bewegte. Mein Brägen2 hat wohl kein Schmalz mehr, der ist wohl ganz ausgetrocknet. Was war das alles. Schuhgeschäfte, Hutgeschäfte, Glühlampen, Destillen3. Die Menschen müssen doch Schuhe haben, wenn sie so viel rumlaufen, wir hatten ja auch eine Schusterei, wollen das mal festhalten. Hundert blanke Scheiben, laß die doch blitzern, die werden dir doch nicht bange machen, kannst sie ja kaputt schlagen, was ist denn mit die, sind eben blankgeputzt. Man riß das Pflaster am Rosenthaler Platz auf, er ging zwischen den andern auf Holzbohlen. Man mischt sich unter die andern, da vergeht alles, dann merkst du nichts, Kerl. Figuren standen in den Schaufenstern in Anzügen, Mänteln, mit Röcken, mit Strümpfen und Schuhen. Draußen bewegte sich alles, aber – dahinter – war nichts! Es – lebte – nicht! Es hatte fröhliche Gesichter, es lachte, wartete auf der Schutzinsel gegenüber Aschinger zu zweit oder zu dritt, rauchte Zigaretten, blätterte in Zeitungen. So stand das da wie die Laternen – und – wurde immer starrer. Sie gehörten zusammen mit den Häusern, alles weiß, alles Holz. Schreck fuhr in ihn, als er die Rosenthaler Straße herunterging und in einer kleinen Kneipe ein Mann und eine Frau dicht am Fenster saßen: die gossen sich Bier aus Seideln in den Hals, ja was war dabei, sie tranken eben, sie hatten Gabeln und stachen sich damit Fleischstücke in den Mund, dann zogen sie die Gabeln wieder heraus und bluteten nicht. Oh, krampfte sich sein Leib zusammen, ich kriege es nicht weg, wo soll ich hin? Es antwortete: Die Strafe. Er konnte nicht zurück, er war mit der Elektrischen so weit hierher gefahren, er war aus dem Gefängnis entlassen und mußte hier hinein, noch tiefer hinein. 11. Kommentieren Sie die ersten Eindrucke Franz Biberkopfs nach seiner Haftentlassung, die sich in diesem Ausschnitt zeigen: • Geben Sie wieder, wie Biberkopf zu der neu erlangten Freiheit steht. • Analysieren Sie, mit welchen Ausdrucken er sie charakterisiert. • Erläutern Sie seinen Eindruck von der Welt um ihn herum. Geben Sie dazu Beispiele fur die verschiedenen Sinne, die angesprochen werden. • Erschließen Sie, aus welchen Erzahlperspektiven hier erzahlt wird. • Geben Sie Gründe für die aktuellen Gefühle und Gedanken von Franz Biberkopf an. 12. Verfassen Sie einen aktuellen Romanbeginn: • Setzen Sie sich damit auseinander, mit welchen Veranderungen ein Mensch heutzutage konfrontiert ware, der mehrere Jahre im Gefangnis verbracht hat. • Entwerfen Sie eine aktuelle Fassung der für Sie relevanten Passagen aus dem Textausschnitt. • Wählen Sie dazu auch eine aktuelle literarische Sprache. 15 20 25 1 Schupo: Schutzpolizist 2 Brägen: Gehirn von Schlachttieren (Küchensprache) 3 Destille: kleinere Gastwirtschaft, in der vorwiegend Branntwein ausgeschenkt wird 30 35 40 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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