Killinger Literaturkunde, Schulbuch

VOM ERSTEN ZUM ZWEITEN WELTKRIEG | 1920 – 1945 273 ROMANE IN ÖSTERREICH In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg (1914 – 1918) setzte sich eine Reihe von Autorinnen und Autoren in Österreich mit der Habsburgermonarchie, ihrem Untergang und ihrem Erbe, der Ersten Republik, auseinander: Stefan Zweig (1881 – 1942), Joseph Roth (1894 – 1939), Robert Musil (1880 – 1942) und Heimito von Doderer (1896 – 1966). Ihre Werke wurden aber zum Teil erst nach dem Zweiten Weltkrieg (1939 – 1945) rezipiert, weil sie nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland (1938) verboten oder unterdrückt worden waren. So sind wesentliche Romane um die Mitte des 20. Jahrhunderts der Vergangenheit zugewendet und behandeln den „Habsburgermythos“. Joseph Roth (1894 – 1939) Joseph Roth war einer der schärfsten Kritiker und zugleich größten Verehrer der österreichisch-ungarischen Monarchie. Er war jüdischer Herkunft, wuchs in Brody in Ostgalizien, einem Territorium der Habsburger-Monarchie, auf und studierte später in Wien. Durch den Zusammenbruch der Monarchie war er jedoch heimat- und orientierungslos geworden. Nach eigenen Angaben war er ein „Franzose aus dem Osten, ein Humanist, ein Rationalist mit Religion, ein Katholik mit jüdischem Gehirn“. Schon in den 20er Jahren erkannte er die Gefahr des Nationalsozialismus und stellte in seinen ersten Romanen den deutschen Kleinbürger als Judenhasser und mit dem Hang zum Faschismus dar. In seinem bekanntesten Roman, dem Radetzkymarsch (1932), beschreibt er die Spätzeit und das Ende der Monarchie am Leben von drei Generationen der traditionsbewussten und nach strengen Grundsätzen lebenden Familie von Trotta. Der Roman liest sich wie eine Krankengeschichte, verfasst von einem Arzt, der einerseits alle Symptome genau sieht, andererseits aus Liebe zum Patienten dessen Agonie1 nicht wahrhaben will. Einen kurzen Einblick in die Eigenart der Welt dieser Habsburgermonarchie gewährt auch der Anfang von Roths Erzählung Die Büste des Kaisers (1935): Die Büste des Kaisers (1935) [...] die Jüngeren unter seinen Lesern bedürften vielleicht der Erklärung, dass ein Teil des Gebietes im Osten, das heute zur polnischen Republik gehört, bis zum Ende des großen Krieges, den man den Weltkrieg nennt, eines der vielen Kronländer der alten österreichisch-ungarischen Monarchie gewesen ist. In dem Dorfe Lopatyny also lebte der Nachkomme eines alten polnischen Geschlechts, der Graf Franz Xaver Morstin – eines Geschlechtes, das (nebenbei gesagt) aus Italien stammte und im sechzehnten Jahrhundert nach Polen gekommen war. Der Graf Morstin hatte als junger Mann bei den Neuner Dragonern gedient. Er betrachtete sich weder als einen Polen Habsburgermythos Szenenausschnitt aus Radetzkymarsch, einem zweiteiligen deutsch-österreichischen Fernsehfilm des Regisseurs Michael Kehlmann aus dem Jahr 1965. 1 Agonie: Todeskampf Multikultureller Vielvölkerstaat 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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