278 War dies richtig? Es klang wie Wahrheit, und war doch nicht wahr oder war nicht mehr wahr: „Es hat keinen Augenblick meines Lebens gegeben, Octavian, den ich nicht hätte festhalten wollen, aber auch keinen, in dem ich nicht zu sterben gewünscht hätte.“ Die Betroffenheit des Cäsars bemühte sich ins Liebenswürdige zurückzufinden: „Es ist nur ein Glück, mein Vergil, dass dir der Sterbenswunsch bisher noch nichts genützt hat; auch diesmal wird er dir bloß bis zur Krankheit verholfen haben. Dein Wunsch zum Leben wird sich mit Hilfe der Götter aufs Neue als der stärkere erweisen.“ „Mag sein ... sicherlich hänge ich am Leben, ja, ich hänge daran, ich muss es zugeben; ich bin des Lebens unersättlich, eben weil mich so sehr nach dem Tode hungert ... noch weiß ich nichts vom Tode ...“ „Der Tod ist nichts; es ist überflüssig von ihm zu sprechen.“ „Du hast viel Tod gesehen, Octavian; vielleicht weißt du darum mehr vom Leben als jeder andere.“ „Möglicherweise war es sogar zu viel Tod, den ich zu sehen bekam, aber wahrlich, mein Freund, das Leben ist so wenig wie der Tod; es führt zu ihm hin, und beide sind nichts.“ [...] Der Augustus setzte sich, und wiederum war es eine etwas müde und einigermaßen unheldische Geste, mit der er sich niederließ. Für eine kurze Weile schloss er die Augen, seine Hand suchte einen Stützpunkt, sie fand ihn an dem bekränzten Kandelaber1, und seine Finger, spielend, zerrieben ein Lorbeerblatt. Und als er die Lider wieder aufschlug, da war der Blick matt und ein wenig leer. Oh, auch dies müsste man festhalten, müsste es aufschreiben können, müsste es aufschreiben wie all das andere, das durch die vielen Jahre hindurch vorbeigeflossen war ohne aufgeschrieben worden zu sein, wie all das andere Menschliche, das nun kaum mehr ein Erinnern war, ein undeutliches Gewimmel von Schädeln und Gesichtsformen, bäurischen und städtischen, sie allesamt haarbewachsen und mit Haut überzogen, runzelig und glatt und manchmal sehr finnig, ein undeutliches Gewimmel von Gestalten, die vorübergezogen waren, vorübergeschlichen, vorübergehinkt, des Menschen ewig gleichbleibender Mannigfaltigkeitskreis, zu dem selbst der Augustus, der irdische Gottesträger, unabweislich gehörte, er ebenso unerinnert wie dieses ganze undurchdringliche, unabzählbare, unabbildbare Gewimmel von Lebensgeschöpfen, ebenso unerinnert wie jedes Einzelne von ihnen, unerinnert sogar das Kreatürliche schlechthin, das ihnen allesamt innewohnt, fressend und schlafend, angefüllt mit Flüssigem und Halbfestem, unerinnert das Knochengestänge unter der Fleischüberpolsterung, das aufgerichtete Knochengestänge, mit dem sie sich bewegen, unerinnert der Mensch, oh, der Mensch, in dessen Lächeln trotz alldem das Göttliche wohnt, sodass er im Lächeln die Neben-Seele, den Neben-Menschen göttlich erkennt – die menschliche Verständigung, die Geburt der Menschensprache aus dem Lächeln. Nichts war davon festgehalten worden, und statt dessen war ein mäßig geglückter Abklatsch des homerischen2 Vorbildes entstanden, ein leeres Nichts, angefüllt mit Göttern und Helden homerischen Gehabens, gegen deren Unwirklichkeit sogar die Müdigkeit des Enkels, der hier saß, noch Kraft bedeutete: denn göttlich noch war selbst dies müdeste Lächeln, das hier im Antlitz des Cäsars schimmerte –, aber kein Antlitz und kein Lächeln besitzt der actische3 Sieger im Gedicht, er besitzt nichts als 15 20 25 30 1 Kandelaber: mehrarmiger, säulenartiger Ständer für Kerzen und Lampen 2 Homer: um 800 v. Chr., griechischer Dichter der Epen Ilias und Odyssee 3 actischer Sieger: In der Schlacht von Actium (31 v. Chr.) errang Octavian, der spätere Kaiser Augustus, die Vorherrschaft über das Römische Reich. 35 40 45 50 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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