Killinger Literaturkunde, Schülerband

280 Erlebte Rede Der letzte Absatz des Ausschnitts ist in der Form der erlebten Rede geschrieben. Die erlebte Rede steht zwischen der direkten Rede und dem inneren Monolog. Sie gibt Vorstellungen und Gedanken einer Figur wieder, jedoch in der 3. Person, also in einer Form, die von der Anwesenheit einer Erzählfigur zeugt. Erlebte Rede und Gang der Handlung werden eins. Da die erlebte Rede geheimste Gedanken offenbart, lässt sie uns tief in die Welt der Figur blicken und gewinnt suggestive Eindringlichkeit. LYRIK DER ZWISCHENKRIEGSZEIT Während die Lyrik im Expressionismus eine bedeutende Rolle gespielt hatte, wurde sie in der Zwischenkriegszeit zurückgedrängt, da die Betonung der sachlichen Schilderung von Inhalten ihr die Ausdruckskraft geraubt hatte. Einerseits trat ironisch-humorvolle Gebrauchslyrik in den Vordergrund, andererseits gewann die Landschaftslyrik größeres Gewicht. Man wollte keine Erneuerung des romantischen Naturgedichts, in dem die Stimmung der Dichterin oder des Dichters im Vordergrund steht und die Natur nur Bilder und Vergleiche liefert. Der Gefühlserregung des lyrischen Ichs stellte man vielmehr die Sprache der Dinge gegenüber. Das übersteigerte Ich-Bewusstsein der Expressionisten sollte von den konkreten Erscheinungen der Natur zurückgedrängt werden. Das genaue Benennen und Beschreiben von Gegenständen und Vorgängen in der Natur sollte das Aufkommen von verschwommenen Gefühlen verhindern, die sich an Naturgedichten so leicht festsetzen. Wilhelm Lehmann meinte: „Die Natur hält jedermann ihre furchtbaren Gemeinplätze hin.“ Eigenart eines Gedichts müsse es jedoch sein, „angeschaute Welt“ zu vermitteln. Das Gedicht versetze „Menschen wie Dinge aus einem ungenauen in einen genauen Zustand“ und verbanne die „Sonntagsgefühle“. Bei all dem wird nicht berichtet wie im Naturalismus; denn die „neue Sachlichkeit“ schließt das Wunder der Natur mit ein. Schon die „Ordnung des Sichtbaren“ erscheint als wunderbar. In formaler Hinsicht verhielten sich die Autorinnen und Autoren durchaus traditionell, d. h. sie verwendeten die gängigen Strophen-, Vers- und Reimformen. Hans Carossa (1878 – 1956), Wilhelm Lehmann (1882 – 1968), Joachim Ringelnatz (1883 – 1934), Gottfried Benn (1886 – 1956), Kurt Tucholsky (1890 – 1935), Georg Britting (1891 – 1964), Bertolt Brecht, Elisabeth Langgässer (1899 – 1950), Erich Kästner (1899 – 1974), Peter Huchel (1903 – 1981), Mascha Kaléko (1907 – 1975) und Günter Eich (1907 – 1972) zählen zu den Lyrikerinnen und Lyrikern dieser Epoche. Einige von ihnen haben auch nach dem Zweiten Weltkrieg ihre schriftstellerische Tätigkeit in ähnlicher Weise fortgesetzt. Joachim Ringelnatz: Die Litfaßsäulen (1933) Es stehen die Litfaßsäulen1 Verstreut, den Leuchttürmen gleich, Und lassen vom Wind sich umheulen Und werden im Regen ganz weich. Und rufen und locken und preisen Aus buntem und grellem Papier Und drohen und stechen und beißen Und lügen noch schlimmer als wir. Früh lehnt ein Mann eine Leiter An das, was Litfaß erfand. Er reißt ihr vandalisch2 doch heiter In Fetzen das bunte Gewand. Nachdem er sie darauf bekleistert – Als brächte ihn Nacktes in Zorn – Klebt er ihr wieder begeistert Viel Buntes auf Hinten und Vorn. Sachlicher Zugang 1 Litfaßsäulen: eine von Ernst Litfaß erfundene Reklamesäule, die mit Plakaten beklebt wird 2 vandalisch: in der Art von Vandalen, zerstörungswütig 2 4 6 8 10 12 14 16 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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