292 Gottfried Benn: Probleme der Lyrik (1951) Aber ich gehe hiervon aus, weil dieser Vorgang einen kollektiven Hintergrund hat, die Öffentlichkeit lebt nämlich vielfach der Meinung: da ist eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht. Nein, so entsteht kein Gedicht. Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht. Wenn Sie vom Gereimten das Stimmungsmäßige abziehen, was dann übrigbleibt, wenn dann noch etwas übrigbleibt, das ist dann vielleicht ein Gedicht. […] Mit dem Begriff Lyrik haben sich seit einigen Jahrzehnten bestimmte Vorstellungen verbunden. […] Das soll heißen, auf der einen Seite steht das Emotionelle, das Stimmungsmäßige, das Thematisch-Melodiöse, und auf der anderen Seite steht das Kunstprodukt. Das neue Gedicht, die Lyrik, ist ein Kunstprodukt. Damit verbindet sich die Vorstellung von Bewusstheit, kritischer Kontrolle, und, um gleich einen gefährlichen Ausdruck zu gebrauchen, auf den ich noch zurückkomme, die Vorstellung von „Artistik“. […] Ich verspreche mir nichts davon, tiefsinnig und langwierig über die Form zu sprechen. Form, isoliert, ist ein schwieriger Begriff. Aber die Form ist ja das Gedicht. Die Inhalte eines Gedichtes, sagen wir Trauer, panisches Gefühl, finale Strömungen, die hat ja jeder, das ist der menschliche Bestand, sein Besitz in mehr oder weniger vielfältigem und sublimem1 Ausmaß, aber Lyrik wird daraus nur, wenn es in eine Form gerät, die diesen Inhalt autochthon macht, ihn trägt, aus ihm mit Worten Faszination macht. Eine isolierte Form, eine Form an sich, gibt es ja gar nicht. […] Gottfried Benn: Ein Wort (1943) Ein Wort, ein Satz –: aus Chiffren2 steigen erkanntes Leben, jäher Sinn, die Sonne steht, die Sphären schweigen und alles ballt sich zu ihm hin. Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, ein Flammenwurf, ein Sternenstrich – und wieder Dunkel, ungeheuer, im leeren Raum um Welt und Ich. 6. Überprüfen Sie, ob Benn hier ein Gedicht im Sinne seiner Erklarung verfasst hat: • Vergleichen Sie die erste und die zweite Strophe. • Analysieren Sie bemerkenswerte formale Aspekte. • Beziehen Sie dazu Stellung, ob Benn seinen Ansprüchen gerecht wurde. 7. Kommentieren Sie den Zugang zum Leben, der in diesem Text vermittelt wird. 5 10 15 20 2 4 6 8 1 sublim: nur mit großer Feinsinnigkeit wahrnehmbar 2 Chiffre: Stilfigur in der modernen Lyrik, Wörter, die als verrätselte Symbole mit meist komplexen Bedeutungen aufgeladen sind Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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