Killinger Literaturkunde, Schulbuch

DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 293 SURREALES GEDICHT Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in der deutschen Lyrik auch die poetischen Verfahrensweisen des Surrealismus wirksam. Dichterinnen und Dichter wie Peter Huchel, Günter Eich, Karl Krolow und Ingeborg Bachmann beschäftigten sich eingehend mit der französischen Literatur und mit der surrealen (= traumhaft-unwirklichen) Bildtechnik. Vor allem die Gedichte von Paul Celan lassen eine surreale Sehweise erkennen. Surrealismus heißt wörtlich: über den Realismus hinausgehend. Der Surrealist möchte von der sinnenhaft erfahrbaren Wirklichkeit und dem logischen Denken weg und in eine Welt des Unbewussten, des Traumhaften, der Visionen gelangen. Er lehnt daher die übliche Bedeutung der Wörter und die grammatischen Regeln des Satzbaus ab und hält sich an spontane Assoziationen, an vom Unbewussten, vom psychischen Ausnahmezustand gesteuerte Bilderfolgen. Die Texte sind sehr schwer verständlich, man nennt sie deswegen auch „hermetisch“1. Im surrealen Gedicht haben die Worte nicht mehr die Aufgabe, außersprachliche Realität zu treffen. Sie schaffen vielmehr unreale Gebilde, die auf eine seelische Gestimmtheit, auf eine noch sprachlose Erfahrung hindeuten. Sie ergeben ein Wortmuster oder „Sprachgitter“ (Celan), das für sich selbst steht. Ein wichtiges Prinzip der Wortgruppierung ist die Verbindung eines konkreten mit einem abstrakten Nomen. Sinnlich Wahrnehmbares wird durch das beigefügte Abstraktum vergeistigt, und Abstraktes erhält durch das Konkretum Farbe, Form und Stimmung. Das ergibt eigenartige sprachliche Bilder: ein Krug voll Zeit, Türme des Vergessens, das Gold unserer Träume, Hochöfen des Schmerzes, die Stufen der Schwermut, die Tische der Zeit. Chiffre Die Chiffre, das starkste sprachliche Bild, ist durch einen hohen Grad an Willkur gekennzeichnet, fur das man lange braucht, um es in die Alltagssprache zu ubersetzen. Dieses Abheben von der Alltagssprache kann in verschiedener Weise erfolgen: durch offenkundige Widerspruchlichkeit, durch ein halluzinatorisches Element, dadurch, dass man dem Abstrakten die Maske des Konkreten uberstulpt, oder dadurch, dass es schwer gelingt, die verwendeten Begriffe in eine leicht durchschaubare Beziehung zur Wirklichkeit zu setzen. Begriff: Surrealismus Hermetische Literatur 1 hermetisch: so dicht verschlossen, dass nichts hinein- oder herausdringen kann René Magritte (1898 – 1967), Irene oder die verbotene Lektüre, 1936. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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