Killinger Literaturkunde, Schulbuch

322 HELMER (mit schwerem Herzen): Ich seh’ es, ich seh’ es: ein Abgrund hat sich zwischen uns aufgetan. – Aber, Nora, sollte er sich nicht überbrücken lassen? NORA: So wie ich jetzt bin, bin ich keine Frau für dich. HELMER: Ich habe die Kraft, mich zu ändern. NORA: Vielleicht – wenn dir die Puppe genommen ist. HELMER: Mich trennen – mich von dir trennen? Nein, nein, Nora, den Gedanken kann ich nicht fassen. NORA (geht in das Zimmer links): Umso notwendiger muss es geschehen. (Sie kommt mit ihren Überkleidern und einer kleinen Reisetasche zurück, die sie auf den Stuhl neben dem Tische stellt.) [...] Lebe wohl, Torvald! Die Kleinen will ich nicht erst sehen. Ich weiß, sie sind in besseren Händen als den meinen. So, wie ich jetzt bin, kann ich ihnen nichts sein. HELMER: Aber später, Nora – später –? NORA: Wie kann ich das wissen? Ich weiß ja gar nicht, was aus mir wird. HELMER: Aber du bist meine Frau, nicht bloß jetzt, sondern auch – NORA: Höre, Torvald! – Wenn eine Frau die Wohnung ihres Mannes verlässt, so wie ich es jetzt tue, dann ist er, wie ich gehört habe, nach dem Gesetz von allen Verpflichtungen gegen sie frei. Jedenfalls entbinde ich dich von allen Verpflichtungen. Du sollst dich durch nichts gebunden fühlen, ebensowenig wie ich gebunden sein will. Auf beiden Seiten muss volle Freiheit herrschen. Da, hier hast du deinen Ring zurück. Gib mir den meinen. HELMER: Auch das? NORA: Das auch. HELMER: Hier ist er. 43. Untersuchen Sie das Beziehungsgefüge zwischen Nora und Helmer: • Beschreiben Sie, wie sich Helmer seiner Frau gegenuber verhalt. • Erlautern Sie, was sie ihm vorwirft und was der Grund ihrer Trennung ist. • Versuchen Sie, die damals enorme Wirkung des Stuckes zu erklaren. Ibsens Stück wurde 1879 in Kopenhagen uraufgeführt und war eine Sensation. Seither ist die Frauenfrage auf der Bühne nicht mehr verstummt. Genau 100 Jahre später, 1979, wurde das Stück Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft (1977) von Elfriede Jelinek in Graz uraufgeführt. Elfriede Jelinek wurde 1946 in Mürzzuschlag geboren und bekennt sich zum Kommunismus und zum Feminismus. Alle ihre dramatischen und erzählenden Werke sind Kritik am Kapitalismus und an den Machtverhätnissen zwischen Mann und Frau. In Jelineks Stück stellt sich Nora zu Beginn so vor: Elfriede Jelinek: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte (1977) Ich bin keine Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde, sondern eine, die selbsttätig verließ, was seltener ist. Ich bin Nora aus dem gleichnamigen Stück von Ibsen. Im Augenblick flüchte ich aus einer verwirrten Gemütslage in einen Beruf. Die dramatischen Personen verkörpern aber keine Individuen wie bei Ibsen. Arbeiterinnen, Manager und Fabrikanten sprechen eine künstliche Sprache und beziehen gesellschaftskritische und femi15 20 25 30 35 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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