Killinger Literaturkunde, Schulbuch

324 MINISTER: Nora lebt nun schon seit einigen Monaten in Ihrem Haus, lieber Fritz, und die Zeit konnte ihrer Schönheit noch nichts anhaben. WEYGANG: Was Frauen betrifft, zählt für mich, ausgehend davon, daß sie leicht verderbliche Ware darstellen, Qualität vor Quantität. MINISTER: Wenn man jedoch bedenkt, wie rasch Sie Ihren Bestand auszutauschen beziehungsweise zu ergänzen pflegen, kommt man beim Rechnen doch auf eine gewisse Quantität. WEYGANG: Und was sagen Sie zu Noras Körper, lieber Minister? MINISTER: Es ist beinahe undenkbar, daß er bereits mehrere Kinder geboren haben soll, wie ich gehört habe. […] WEYGANG: Auf dem Boden, der noch nicht der Meine ist, der aber der Meine sein wird, falls Sie mir die Informationen besorgen, lernte ich Nora kennen, die nun die Meine ist. MINISTER: Eine solche Frau ... WEYGANG: Meine Nora, mein Sonnenschein und mein kostbarster Besitz. MINISTER: ... könnte auch gut mein Sonnenschein sein. WEYGANG: Sie hat nicht nur ein Gesicht und einen Körper, sondern auch noch eine beträchtliche Allgemeinbildung. MINISTER: Sie sind ein guter Geschäftsmann, Fritz, das muß man Ihnen lassen. Sie verstehen es zu verkaufen. WEYGANG: Der Gedanke, mich je von ihr zu trennen, schneidet wie ein Dolch durch mich hindurch. Nachdem der Schnitt vollführt ist, schiebe ich den Gedanken weit fort. MINISTER: Ich alter Kenner sage: der Mythos Frau – die Haut, der Körper als der Ort, in den sich der ewige Widerspruch eingeschrieben hat! Zu viele Laien sind auf diesem Gebiet als Wilderer tätig. WEYGANG: Das Kapital ist jedoch von allergrößter Schönheit. Nicht einmal Vermehrung beeinträchtigt seinen hervorragenden Wuchs. MINISTER: Sie hat eine starke Kindlichkeit wie beispielsweise Wedekinds Lulu sie auch hat. Sie hat keinen moralischen Maßstab. WEYGANG: Ja. Ich liebe sie und bin ihr vollkommen verfallen. MINISTER: Auch ich könnte sie lieben. WEYGANG: Ist was dran oder nicht? MINISTER: Woran? Mit Geld allein ist es diesmal nicht abgetan, lieber Fritz. WEYGANG: Kapital ist ängstlicher Natur. Es scheut vor der Abwesenheit von Profit oder der Drohung von nur sehr kleinem Profit zurück wie die Natur vor der Leere. MINISTER: Die Natur scheut keineswegs vor der Leere zurück, sie trachtet sie vielmehr auszufüllen. Das deckt sich zufällig mit meiner privaten Philosophie, die der Thermodynamik entnommen wurde. […] WEYGANG: Die Natur begünstigt den Gewerbetreibenden im großen Stil, wie sie übrigens auch die Liebe begünstigt, meine zu Nora zum Beispiel. Wie immer die üblichen Schweizer Konten? MINISTER: Ja. Aber diesmal müssen Sie was drauflegen, mein Gutester. WEYGANG: Was denn? MINISTER: Ihre Nora reizt mich nicht unbeträchtlich. WEYGANG: Die Frau, die ich liebe, werde ich niemals verschachern, eher verschachere ich mich selber oder meinen rechten Arm. MINISTER: Dann eben nicht! 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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