Killinger Literaturkunde, Schulbuch

330 Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre Jahre setzte sich im ganzen deutschen Sprachraum der Grazer Dramatiker Werner Schwab (1958 – 1994) durch. Sein ganzes Werk ist aus dem Ekel vor der Welt geboren. Der Titel seines „Theaterzernichtungslustspiels“ drückt sein Streben aus: Endlich tot, endlich keine Luft mehr. Der Kritiker Helmut Schödl urteilte in der Wochenzeitung Die Zeit so: Es ist, als hätten sich die Müllhalden erhoben und gekreißt1. Dabei könnten Schwabs Figuren entstanden sein, die gut in unsere Landschaft passen: zu den toten Flüssen, der stinkenden Luft, der Tschernobylwelt2. Die Seelen sind verrostet, die Köpfe ausgeschlachtet, die Körper zerbeult. Was man Schwab als Lebensekel vorhält, ist ein neurotisch geschärfter Realitätssinn. Wo die anderen wegschauen, schaut Schwab hin. Was man nicht sagt, spricht er aus. Sein Stück Mesalliance3 (Uraufführung 1992 in Graz) enthält einen gewissen Humor in der Dialogführung und zeigt seine für alle Stücke kennzeichnende Sprache: Werner Schwab: Mesalliance (1992) ERSTER AKT (Im Garten des Familienhauses der Familie Pestalozzi. Herr und Frau Pestalozzi in Badehose und Badeanzug. Herr Pestalozzi korrigiert auf einem Gartentischchen Hefte, Frau Pestalozzi topft fanatisch Blumen um.) FRAU PESTALOZZI: Der übermorgige Tag beherbergt den Geburtstag von Johannes und Johanna4. Ein Fest steht an wie ein fälliger Wechsel. Die frühgeburtige Hitze dieses Sommers geht wieder hässlich um mit dem meinigen Erscheinungsmenschen. Meine Falten mutieren mir zu Schluchten, in die sich die alten Tiere zum Sterben zurückziehen. Am besten, wir grillen uns den Geburtstag von Johannes und Johanna hier im Garten ..., direkt vor den sterbenden und essenden Augen der ganzen Welt ... (lässt erregt einen Blumentopf fallen). Ich fühle es, ein Grillfest wird sich proportional verhalten können zur boshaften Entropie dieses schadensmeldungssüchtigen Frühsommers (hebt den Topf auf). Das Sonnenöl gewöhnt sich auch dieses Jahr nicht an meine Haut. HERR PESTALOZZI: Es ist ja nicht geisteskrank, das Sonnenöl. FRAU PESTALOZZI: Was? HERR PESTALOZZI: Ach ... nichts. Du verstehst ja sowieso an sich beinahe nichts, da musst du sowieso beinahe nichts verstehen können. FRAU PESTALOZZI (betrachtet ihn irritiert): Wir werden unsere Nachbarschaft umfassend zusammentreiben bei uns mit der unwiderstehlichen Einladung von uns, mit uns die komplizierte Geburt unserer Zwillinge abzufeiern. Das gegrillte Bauchfleisch, die Blutwürste und die knusprigen Schweinefüße werden sich als Geburtstagsvermächtnis am Ende selber umfeiern, bis das stachelige Zwillingszentrum eine weiße Flagge wird hissen müssen. […] Ein möglicher Überschuss an Zwillingsschmerzen wird in einem intimen Fass Bier ertränkt wie ein neugeborener Hund ohne Hundehüttenanspruch. Johannes und Johanna werden in die Geschichte eines Grillfestes eingehen müssen wie eine Revolution, die nicht Ausdruck des Ekels 1 kreißen: in Geburtswehen liegen, gebären 2 Tschernobylwelt: Tschernobyl, ukrainische Stadt, in deren Nähe sich im Jahr 1986 eine der schwersten Nuklearkatastrophen seit Beginn der Nutzung von Atomenergie ereignet hat 3 Mesalliance: nicht standesgemäße Ehe zwischen Partnerinnen und Partnern aus verschiedenen Gesellschaftsschichten 4 Johannes und Johanna: die Kinder der Pestalozzis (Zwillinge) 5 5 10 15 20 25 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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