Killinger Literaturkunde, Schülerband

336 kulisse: Einen Dialog auf offener Straße z. B. kann man mit Straßenlärm unterlegen; wechselt das Geschehen in einen Innenraum, dann hört der Lärm auf. Einerseits sind Geräusche notwendige Hilfen für die Hörerinnen und Hörer, andererseits kann die Geräuschkulisse aufdringlich und banal werden, etwa wenn ein Gespräch im Auto ständig von Fahrgeräuschen und Bremsenquietschen begleitet ist. Luigi Squarzina (1927 – 2010) möchte in seinem Hörspiel Der Unfall (1972) mitteilen, dass in einer Bahnstation ein Postsack abgeworfen wird, eine Situation, für die der Film eine einzige Einstellung braucht. Im Hörspiel lassen sich nur Gehörswahrnehmungen vermitteln: Luigi Squarzina: Der Unfall (1972) Langes Läuten, das im Bahnwärterhäuschen das Nahen des Zuges ankündigt ... Geräusche des herannahenden Zuges. STIMME AUS DEM ZUG: Halloooo! Pierooooo! Der Zug fährt vorüber. Ein schwerer Sack, der vom Postwagen heruntergeworfen wird, plumpst auf die Erde. Der Zug entfernt sich pfeifend. Sprache und Geräusche wirken hier in wechselseitiger Stützung zusammen. Geräusche werden im Hörspiel nicht nur als Tonuntermalung und realistisch zur Verdeutlichung von Vorgängen und Handlungen eingesetzt, sondern auch poetisch als akustische Symbole, erstmals von Günter Eich in Träume (1951), wo Angst durch das Geräusch beim Fahren über Schienenstöße ausgedrückt wird. Geräusche als symbolische Zeichen treten in der Regel an mehreren Stellen eines Stückes auf, sodass man von Leitmotiven sprechen kann. Der wiederholt hörbare „schleppende Marschtritt“ etwa wird zum symbolischen Geräusch für die unaufhaltsame Getriebenheit der Soldaten in Otto Heinrich Kühners (1921 – 1996) Hörspiel Die Übungspatrone (1950). Der Fachausdruck für das, was räumliche und zeitliche Veränderungen sowie Figurenwechsel deutlich macht, heißt akustische Blende. Als Rückblende eröffnet die Blende auch eine zeitliche Dimension: Vergangenes wird in die Gegenwart eingeblendet, und zwar entweder als Dialog oder als Erinnerungsmonolog einer Figur. Mit Hilfe des Halleffekts lassen sich verschiedene Wirklichkeitsebenen signalisieren, zum Beispiel Wachbewusstsein und Traum, Diesseits und Jenseits. Die akustische Blende verbindet die Phasen in Form des harten oder des weichen Schnitts (langsames Aus- und Einblenden, Überblenden). Das literarische Hörspiel stellt von den kommunikativen Bedingungen her höhere Ansprüche an die Konsumentinnen und Konsumenten als Film und Fernsehspiel. Gute Hörspielautorinnen und -autoren und -regisseurinnen und -regisseure vermögen jedoch aus der Not eine Tugend zu machen und das Wort und seine Bedeutung rein zur Wirkung kommen zu lassen. Die aktivierte Phantasie entwirft einen innerlich geschauten Raum, der dem sichtbaren Raum im Film und auf der Bühne die persönliche Gestaltung und oft auch stärkere Einprägsamkeit (Imagination) voraus hat. 59. Verfassen Sie in der Kleingruppe ein Hörspiel nach einer literarischen Vorlage: • Wählen Sie einen Textabschnitt aus Arthur Schnitzler Leutnant Gustl (zu finden auf www.projekt-gutenberg.org) und lesen Sie ihn mehrmals laut durch. • Überlegen Sie, welcher Vortragsstil, welche Geräusche, welche Musik passend wäre. • Setzen Sie Ihre Version entweder live oder mit Hilfe eines digitalen Endgeräts (Handy, Tablet, Computer) um. 5 Akustische Leitmotive Reduktion als Chance Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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